Wolfsburg. Vor vier Jahren starb der 10-Jährige Vincent aus Wolfsburg im Waldpädagogikzentrum Hahnhorst. Wer Verantwortung trägt, ist bis heute unklar.

Sven D. unterhielt sich mit einem Arbeitskollegen, als er einen Stich in seiner Brust verspürte. Er dachte sogar, er hätte einen Herzinfarkt erlitten, so schlimm waren diese Schmerzen. Dies ereignete sich am Vormittag des 18. Juni 2019. Einige Stunden später wurde Sven D. in einen Besprechungsraum gerufen. Polizisten und ein Seelsorger warteten dort auf ihn. Sie teilten ihm mit, dass sein 10-jähriger Sohn Vincent, der einen Tag zuvor mit seiner Schulklasse verreist war, verstorben war. Diese Nachricht musste der Vater nun seiner Frau Kathleen und der gemeinsamen Tochter überbringen.

Der Verlust ihres Kindes ist für die Eltern ein Schmerz, der niemals aufhört. Darin mischen sich Wut und Verzweiflung. Niemand konnte den Eltern bislang sagen, ob jemand den Tod ihres Kindes fahrlässig verursacht hat. Die Justiz, die diese Antwort liefern könnte, ist bis heute noch nicht soweit, dass die Frage in einem Prozess geklärt werden könnte. Am Sonntag jährt sich der Tod von Vincent zum vierten Mal 1461 Tage sind seitdem vergangen.

Ein „tragischer Unfall“

Am 18. Juni 2019 meldet die Polizeiinspektion Diepholz in einer Pressemitteilung: „Bei einem tragischen Unfall im Waldpädagogikzentrum Hahnhorstin der Nähe Schwafördens ist heute ein 10-jähriger Junge tödlich verunglückt. Der 10-Jährige war gestern mit seiner Schulklasse aus Wolfsburg zu einer Klassenfahrt angereist. Heute Vormittag, nach dem Frühstück, geriet der Junge beim Spielen mit Mitschülern unter einen auf Schienen stehenden Wagen. Trotz sofortiger Reanimationsmaßnahmen verstarb der 10-Jährige noch an der Unglücksstelle. Die Schulklasse, Lehrer und Mitarbeiter des Zentrums wurden von Sanitätern und Seelsorgern betreut. Die Klassenfahrt wurde abgebrochen und die Schulklasse trat unter Begleitung von Seelsorgern die Heimreise an. Auch in Wolfsburg wurde die Klasse von der Schule, den Eltern und Betreuungspersonen in Empfang genommen.“ Ein Polizeisprecher zeigte sich damals am Telefon bestürzt über das Unglück: „Es geht uns allen so, wir haben hier viele Kollegen mit Kindern.“

Den Wald erleben

Die Niedersächsischen Landesforsten mit Sitz in Braunschweig sind größter außerschulischer Lernstandort in Niedersachsen. Laut Eigendarstellung bilden die elf Waldpädagogikzentren (WPZ) mit ihren maßgeschneiderten Angeboten für Kita und Schule das Herzstück. Die jungen Besucher sollen den Wald erfahren, ihre Sozialkompetenz stärken, Teamgeist leben.

Das WPZ Hahnhorst – etwa auf halber Strecke zwischen Hannover und Bremen gelegen – entstand ab 1996 auf dem Gelände des ehemaligen Versuchsschachtes Staffhorst I des Barbara­ Erzbergbaubetriebes. Mitte der 1950er Jahre wurde ein Schacht angelegt, um Abbaumöglichkeiten auszuloten. Aus dieser Zeit stammt eine schwere Lore, die bis zum Unglück 2019 auf dem Gelände auf einem Schienenstrang stand. Sie wurde zum Sitz- und Spielgerät umgebaut, als solches aber niemals geprüft oder abgenommen – im Gegensatz zu einem Spielplatz, der direkt daneben liegt und regelmäßig auf Sicherheit überprüft wurde.

Besuch an der Unglücksstelle

„Wir wollten bis heute nie die Details wissen, wie Vincent gestorben ist. Wichtig war für uns, dass er keine großen Schmerzen erleiden musste“, sagt Sven D.. Nachdem die Ermittlungen an der Unglücksstelle abgeschlossen waren, durften die Eltern das WPZ besuchen. Sie sahen den augenscheinlich vielbefahrenen Schienenstrang, fühlten die Steine, auf denen ihr Kind zuletzt lag, legten dort für eine Erinnerungsaufnahme Vincents Lieblingsblumen, Sonnenblumen, ein Foto von ihm, eine eingeschweißte Karte mit einem Spruch, sein Lieblingsstofftier „Hundidini“ ab. Ganz am Ende der Schienen stand noch die Lore, dieses „Monstrum“, wie es Sven D. bezeichnet, nun allerdings mit Holz abgesperrt und unter Plastik versteckt.

Wie können die Eltern mit dem Tod ihres Kindes umgehen?

Menschen mögen darauf vorbereitet sein, dass ihre Eltern einmal sterben werden. Es dürfte aber für jeden schwer zu fassen sein, wenn ein Partner stirbt. Der so ziemlich schwerste denkbare Schicksalsschlag ist jedoch für Eltern, wenn ihre Kinder vor ihnen sterben.

Die Lore stammt noch aus der Zeit, als vor dem WPZ auf dem Gelände Bergbau betrieben wurde. Die Lore wurde zum Sitz- und Spielgerät umgebaut, als solches aber niemals geprüft oder abgenommen.
Die Lore stammt noch aus der Zeit, als vor dem WPZ auf dem Gelände Bergbau betrieben wurde. Die Lore wurde zum Sitz- und Spielgerät umgebaut, als solches aber niemals geprüft oder abgenommen. © Hendrik Rasehorn (Archiv)

Im Haus von Kathleen und Sven D. gibt es so viel, das an Vincent erinnert. Sein Zimmer haben sie im gleichen Zustand gelassen, wie es 2019 aussah. Die Mutter hat sich ein Tattoo mit einem Papierflieger und seinen Namen stechen lassen, der sie an ihren Sohn erinnert. Das Paar vertraut an, wie es um ihre Gefühle bestellt ist, über ihre Erfahrungen, welche Menschen ihnen guttun, dass sie andere kennengelernt haben, die ähnliches durchstehen müssen, wie der Alltag in ihrer Familie aussieht, aus der mit Vincent ein Stück weggebrochen ist.

„Ich ziehe mir morgens meine Maske über und abends wieder runter“, sagt Kathleen D.. Je näher der Jahrestag des Unglücks heranrückt, umso größer spüren sie die Belastung – psychisch genauso wie physisch. Heilt nicht die Zeit alle Wunden? Kathleen D. mag nicht daran glauben. Viele Jahre wollten die Eheleute nicht mit der Presse sprechen. Nun haben sie sich umentschieden. Warum?

„Wir wollen nicht, dass alle nun sagen: diese armen Menschen“, erklärt Sven D.. „Aber wir kommen nicht weiter auf unserem Weg.“ Dafür sei es notwendig, die rechtliche Aufarbeitung zum Fall ihres Sohnes abzuhaken – „hoffentlich mit einem Ergebnis, mit dem wir leben können. Denn wir werden unser ganzes Leben damit leben müssen.“

Niemand habe gewollt, dass Vincent sterben musste, bekräftigt Sven D., doch fahrlässig sei es, wenn jemand blind sei vor einer Gefahr und Kinder davor nicht beschütze. „Wir wollen niemanden im Gefängnis sehen. Nur es muss geklärt werden, dass der Tod von Vincent nie hätte passieren dürfen, weil Menschen einen Fehler gemacht haben. Solange dies nicht geschieht, werden wir niemals einen Schlussstrich ziehen können.“

Die Ermittlungen zu Vincents Tod

Wie steht es ums Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ins deutsche Rechtssystem? Das Institut für Demoskopie Allensbach führt jährlich im Auftrag von Roland Rechtsschutz eine Befragung durch. Im Rechtsreport 2023 kritisierten 80 Prozent der Befragten die lange Dauer von Gerichtsverfahren.

Zwischen der Staatsanwaltschaft Verden und dem für den Fall zuständigen Amtsgericht Sulingen entwickelte sich über die Jahre ein Ping-Pong-Spiel: Mehrfach wurden Anklagen vorgelegt und im Gegenzug Nachermittlungen auferlegt. Dabei ging es auch um Fragen, ob die Lehrer womöglich nicht auf die Schüler geachtet haben oder ob die Kinder zu wild auf der Lore herumgetobt haben könnten.

Im Fall „Hahnhorst“ lautet die strafrechtlich entscheidende Frage, wer die Aufsichtspflicht über die Lore ausübte. Die Staatsanwaltschaft hat 2022 zwei Personen der fahrlässigen Tötung von Vincent beschuldigt: den Leiter des Waldpädagogikzentrums sowie eine WPZ-Mitarbeiterin.

Der Star-Verteidiger

Beide werden von der Kanzlei Nagel Schlösser aus Hannover verteidigt, ein für Strafrecht spezialisiertes Schwergewicht auf der deutschen Anwalts-Landkarte. Die Verteidigung des WPZ-Leiters übernimmt Professor Dr. Michael Nagel. Er stand bereits dem früheren Bundespräsidenten Christian Wulff oder Hells Angels-Boss Frank Hanebuth als Anwalt zur Seite.

Nagel kommentiert weder die Ermittlungen noch die Dauer des Verfahrens. Die Anklage der Staatsanwaltschaft hält er indes für falsch. „Die Vorwürfe sind und waren zu keiner Zeit begründet. Sie führen zu einer kaum mehr tragbaren persönlichen Belastung für die Beschuldigten. Kein Leid ist mit dem Leid der Eltern vergleichbar, die durch dieses tragische Unglück ihr Kind verloren haben. Jeder möge sich aber vorstellen, was mit einem passiert, dem eine Mitverantwortung für ein solches Unglück zugeschrieben wird und der sich aufgrund dessen jahrelangen Ermittlungen ausgesetzt sieht. Das ist unzumutbar.“

Ausweislich der Internetseite der Kanzlei strebt Nagel bei Strafverfahren die Verhinderung einer öffentlichen Hauptverhandlung an. „Das ist erst recht in diesem Verfahren mein Ziel“, stellt Nagel klar. Keine Seite könne im Falle einer öffentlichen Hauptverhandlung als ,Gewinner‘ aus dieser herausgehen. „Das verstorbene Kind wird durch ein solches Verfahren selbst bei einem Schuldspruch nicht wieder lebendig. Selbst ein Freispruch kann die Belastungen, die mit einem solchen Verfahren einhergehen, für unsere Mandanten kaum mehr hinreichend kompensieren.“

Er weist darauf hin: „Ein Unglück ist eben kein Unrecht.“ Bei der Gemengelage potenziell möglicher Geschehensabläufe, die, wenn sie denn eingetreten wären, dieses Unglück möglicherweise hätten verhindern können, sei daher ein öffentlicher Strafprozess ein von vorneherein untaugliches Mittel, meint Nagel. „Der nachvollziehbare Wunsch der Eltern, für den schrecklichen Tod ihres Kindes einen Verantwortlichen zu finden, kann durch einen Strafprozess nicht erfüllt werden. Es werden mehr Fragen zurückbleiben, als Antworten gegeben werden können. Es ist ein Gebot der Vernunft – unabhängig von Rechtsfragen. Und diese sind nicht leicht zu klären.“

Gibt es einen Prozess?

Das Amtsgericht Sulingen reichte die Anklage Anfang 2023 ans Landgericht Verden weiter mit der Bitte, wegen der Bedeutung des Falls zu übernehmen. Ein Eröffnungsbeschluss, ob die Anklagen zur Verhandlung zugelassen werden, wurde vom Landgericht bis heute nicht getroffen. „Die Kammer hat Nachermittlungen getätigt“, erklärt eine Sprecherin auf Nachfrage. Mit Blick auf die Auslastung der Kammer könnte ein Termin 2023 noch in Betracht kommen. „Unsere große Angst ist, dass es niemals zum Prozess kommt“, sagt Sven D..

Das fünfte Trauerjahr

Der Vater erinnert sich an Vincent als einen „Hansdampf in allen Gassen“, denn „er wollte am liebsten alle Sachen machen und wenn es nicht klappte, gleich die nächste ausprobieren.“ Kürzlich habe er einem früheren Freund seines Sohnes zum Geburtstag gratuliert. „Ich habe ihm gesagt, bleib’ sauber und schau’, dass du dein Leben gut machst. Das hätte ich auch gerne meinem Sohn gesagt.“

Am Tag nach dem Tod des Jungen setzte seine Schule dieses Trauerbild auf ihre Internetseite.
Am Tag nach dem Tod des Jungen setzte seine Schule dieses Trauerbild auf ihre Internetseite. © Hendrik Rasehorn (Archiv)

Vincent hatte den Traum, Informatiker zu werden, deshalb suchte er sich sein Gymnasium in Wolfsburg aus, das Informatik-Kurse im Programm hatte. Im Hof der Schule wurde als Erinnerung an ihn ein Baum gepflanzt. In den Ästen hängen Herzchen, die Mitschüler aufgehängt haben. Mit den Jahren sind mehrere auf den Boden gefallen. An seinem Todestag werden an einer Stele Blumen niedergelegt, daneben Kerzen, ein Bilderrahmen mit seinem Namen und dem Papierflieger. Es heißt, seit dem Unglück 2019 würden sich einige Lehrer weigern, noch Klassenfahrten zu begleiten.

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