Wolfsburg. Ein Wolfsburger Schüler starb 2019 im Waldpädagogikzentrum Hahnhorst. Gericht verfügt: Staatsanwälte müssen Anklage schon wieder überarbeiten.

Heute vor drei Jahren verstarb Vincent bei einem Schulausflug. Der zehn Jahre alte Wolfsburger Schüler hatte gemeinsam mit seiner fünften Klasse vom Theodor-Heuss-Gymnasium das Waldpädagogikzentrum (WPZ) Hahnhorst besucht.

Dort geriet er unter eine Lore, die als Spielgerät umgebaut, aber nicht gesichert worden war. Trägt für den Tod des Jungen jemand die Verantwortung? Diese Frage rückt fast in den Hintergrund angesichts der Tatsache, dass Anklagen zwischen Staatsanwaltschaft Verden und Amtsgericht Sulingen hin und her wandern. Versagt der Rechtsstaat? Oder beweist er, dass er zum Schutz der Beschuldigten und zur Wahrung der Unschuldsvermutung seine Pflichten ganz genau nimmt?

In drei Jahren schlug das Verfahren immer wieder neue Haken

Die Niedersächsischen Landesforsten mit Sitz in Braunschweig unterhalten elf Waldpädagogikzentren. Kinder sollen darin das Ökosystem Wald kennenlernen. Das WPZ Hahnhorst wurde 1966 auf dem Gelände eines früheren Erzbergbaubetriebs gegründet. Aus dieser Zeit stammt die Lore. Die Ermittlungen fokussieren sich auf drei WPZ-Mitarbeiter, darunter den Leiter der Einrichtung. Ursprünglich hatte die Staatsanwaltschaft für Sommer 2020, also ein Jahr nach dem Tod des Jungen, ihre Abschlussentscheidung angekündigt. Dazu kam es nicht, sondern das Verfahren läuft bis heute.

Im Februar 2021 wurden die Ermittlungen gegen den Leiter eingestellt: Ihm oblag keine organisatorische Verantwortung, hieß es. Dafür wurden zwei Mitarbeiter angeklagt. Diese hätten es unterlassen, die Lore

Im Waldpädagogikzentrum Hahnhorst kam am 18. Juni 2019 ein 10-jähriger Schüler aus Wolfsburg ums Leben.
Im Waldpädagogikzentrum Hahnhorst kam am 18. Juni 2019 ein 10-jähriger Schüler aus Wolfsburg ums Leben. © Hendrik Rasehor (Archiv)

sicherheitstechnisch zu prüfen und gegen Wegrollen zu sichern. Im Zwischenverfahren, in dem geprüft wird, ob eine Anklage zur Hauptverhandlung eröffnet wird, zeigte sich das Amtsgericht Sulingen unzufrieden. Es verlangte von der Staatsanwaltschaft ergänzende Ermittlungen, wie eine Gerichtssprecherin im Mai 2021 mitteilte. Die Staatsanwaltschaft überarbeitete die Anklage gegen die zwei Mitarbeiter.

„Die Akte ist erneut der Staatsanwaltschaft“

Das Gericht teilte im Dezember 2021 auf Nachfrage mit, es erwäge, die neue Anklage nicht zuzulassen. Die Staatsanwaltschaft wurde darauf hingewiesen, sie möge prüfen, was in den Arbeitsverträgen steht. Tatsächlich war darin die Verkehrsaufsicht über das Gelände nicht auf die Beschuldigten übertragen worden. Die Staatsanwaltschaft nahm die Anklagen gegen die Mitarbeiter zurück und stellte die Ermittlungen mangels hinreichenden Tatverdachts ein.

Stattdessen klagte sie wieder den Leiter an wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Er hätte die Verkehrsaufsicht über das Gelände ausgeübt, hätte eine Verkehrssicherungspflicht bezüglich der Lore und somit seine Sorgfaltspflicht verletzt. Die Anklage wurde vom Gericht geprüft – mit dem Ergebnis: „Die Akte ist erneut der Staatsanwaltschaft zur Durchführung weiterer Ermittlungen übersandt worden“, teilte eine Gerichtssprecherin mit. „Eine Entscheidung zur Zulassung der Anklage hat dementsprechend noch nicht stattgefunden.“

Staatsanwaltschaft Verden räumt „bedauerliche Verzögerung“ ein

Unsere Redaktion bat die Staatsanwaltschaft um eine Stellungnahme. Ihr Sprecher Martin Schanz antwortete.

Zum dritten Mal hat das Amtsgericht Sulingen die Anklage der Staatsanwaltschaft Verden im Zwischenverfahren geprüft, aber keine Entscheidung zur Eröffnung des Hauptverfahrens getroffen. Erneut muss die Staatsanwaltschaft die Anklage nachbessern. Sieht die Behörde Versäumnisse auf ihrer Seite?

Das Verfahren ist neben dem tragischen Tod eines Kindes durch verschiedene rechtliche und tatsächliche Besonderheiten gekennzeichnet, die zu einer auch hier bedauerten Verzögerung geführt haben. Nachdem nach umfänglicher Aufklärung über die tatsächlichen und technischen Umstände zunächst zwei unmittelbar vor Ort eingesetzte Mitarbeiter des WPZ wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden waren, war diese

Nach dem Tod eines Wolfsburger Schülers auf einer Klassenfahrt herrschte an seiner Schule, dem Theodor-Heuss-Gymnasium, große Bestürzung. Auf der Internetseite wurde damals dieses Trauerbild veröffentlicht 
Nach dem Tod eines Wolfsburger Schülers auf einer Klassenfahrt herrschte an seiner Schule, dem Theodor-Heuss-Gymnasium, große Bestürzung. Auf der Internetseite wurde damals dieses Trauerbild veröffentlicht  © Hendrik Rasehorn (ARchiv)

Anklage nach einer weiteren Aufhellung der (arbeits-)rechtlichen Gegebenheiten zurückgenommen worden und im Gegenzug Anklage gegen den Leiter des WPZ erhoben worden. Das Amtsgericht Sulingen hat in Bezug auf diese Anklage noch keine Entscheidung über den hinreichenden Tatverdacht getroffen und zunächst weitere Ermittlungen angeregt. Unter anderem sieht das Gericht weiteren Aufklärungsbedarf in organisatorischer und technischer Hinsicht. Diesen Anregungen wird hier zur Förderung des Verfahrens nachgekommen. Der Verfahrensgang bildet die diesbezüglichen Vorschriften der Strafprozessordnung ab, wonach Staatsanwaltschaft und Gericht nacheinander und unabhängig voneinander die Frage des hinreichenden Tatverdachts zu prüfen haben.

In welche Richtung werden aktuell Nachermittlungen durchgeführt?

Nachermittlungen werden entsprechend der gerichtlichen Anregung zur Organisations- und Leitungsstruktur innerhalb der Landesforsten in Bezug auf das WPZ (um die Verkehrssicherungspflicht weiter bewerten zu können), sowie des Einsatzes der Lore als Spielgerät (sicherheitstechnisches Gutachten) durchgeführt. Zudem hält das Gericht die Vernehmung weiterer unmittelbarer Zeugen für erforderlich.

Hätte die Staatsanwaltschaft grundsätzlich die Möglichkeit, obwohl kein Nichteröffnungsbeschluss vorliegt, trotzdem Beschwerde einzulegen, weil das Amtsgericht die Anklage nicht annimmt?

Generell gilt, dass die Staatsanwaltschaft nur gegen gerichtliche Entscheidungen vorgehen kann. Zum gegenwärtigen Verfahrensstand ist eine Beschwerde weder möglich, noch geboten. Vielmehr setzt die Staatsanwaltschaft die gerichtlichen Anregungen um, damit der Sachverhalt weiter aufgeklärt wird.

In welchem Zeitraum rechnet die Staatsanwaltschaft mit Abschluss Ihrer Nachermittlungen?

Dies lässt sich nur schwer prognostizieren und hängt hier von der Dauer des noch zu erstattenden Gutachtens und der Umsetzung der veranlassten polizeilichen Vernehmungen ab. Mit der Einholung des Gutachtens wurde bereits ein Sachverständigenbüro für Spielplatzsicherheit beauftragt. Dieses hat die Erstattung des Gutachtens noch in diesem Monat in Aussicht gestellt. Bis wann die Zeugenvernehmungen abgeschlossen sein werden, vermag ich nicht einzuschätzen. Die Polizei ist um priorisierte Bearbeitung gebeten worden.

Die Eltern des Jungen treten im Verfahren als Nebenkläger auf. Ihr Anwalt hat eine Verzögerungsrüge erhoben. Die ist möglich, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass ein Verfahren nicht in einer

Die Generalstaatsanwaltschaft Celle ist mittlerweile auch in den Fall involviert. (Symbolfoto).
Die Generalstaatsanwaltschaft Celle ist mittlerweile auch in den Fall involviert. (Symbolfoto). © dpa | Silas Stein

angemessenen Zeit abgeschlossen wird. Die Beschwerde richtet sich gegen die Einstellung des Verfahrens gegen die beiden WPZ-Mitarbeiter. Die Generalstaatsanwaltschaft (GenStA) Celle prüft, hat aber noch keine Entscheidung getroffen, erklärt Oberstaatsanwältin Ann-Kristin Fröhlich, Sprecherin der Behörde.

Generalstaatsanwaltschaft könnte grundsätzlich eingreifen

Die Frage, ob eine GenStA grundsätzlich im Rahmen ihrer Dienstaufsicht tätig werden könnte, um möglicherweise in fehlerhafte Ermittlungen einer nachgeordneten Staatsanwaltschaft einzugreifen, bejaht Fröhlich: „Dem dient das Berichtswesen. Das heißt, dass die Behördenleiter der Staatsanwaltschaften die vorgesetzten Behörden in herausgehobenen Verfahren über Einleitung und Fortgang eines Verfahrens unterrichten.“ Falls erforderlich, kann von Seiten der GenStA auf eine andere Sachbehandlung (zum Beispiel bestimmte weitere Ermittlungen) hingewirkt werden. „Dies geschieht jedoch nur sehr selten, weil es wegen der sehr guten Arbeit der Staatsanwaltschaften, denen die Ermittlungen in einem bestimmten Verfahren nun einmal zuvörderst obliegen, nicht anders erforderlich ist“, sagt Fröhlich.

Außerdem ist eine GenStA auf eine Einstellungsbeschwerde hin ohnehin zur Entscheidung hierüber berufen, falls die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen nicht von sich aus wieder aufnimmt. In diesem Fall kann die Einstellungsentscheidung aufgehoben und können die in diesem Fall vorzulegenden Akten zu weiteren Ermittlungen oder gleich zur Anklageerhebung zurückgegeben werden. „Dies ist allerdings rein tatsächlich die Ausnahme“, stellt Fröhlich klar.

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