Eschede. Eschede steht für das schreckliche ICE-Unglück. Das erschütternde Protokoll: Für viele Angehörige ist es immer noch so, als wäre es eben passiert.

Es ist heute vor 25 Jahren, 3. Juni 1998, 10:57 Uhr: Unter Wagen 1 des Intercity-Express 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“, in München gestartet, mit 200 Stundenkilometern unterwegs zwischen Hannover und Hamburg, bricht ein sogenannter Radreifen. Es ist das Ergebnis unzureichender Technik und jahrelanger Schlamperei bei der Wartung, wie sich später herausstellen wird.

Der gebrochene Radreifen schlägt 101 Sekunden vor der Katastrophe, wie die Spezialisten des Instituts für Eisenbahnwesen der TU Braunschweig ermitteln werden, gegen den Wagenboden und verursacht dort einen Riss. Die erschreckten Fahrgäste – mehr als 200 sind an Bord – stecken ihre Köpfe jedoch schnell wieder in die Zeitungen und Bücher, weil der ICE scheinbar normal weiterfährt.

Was sie nicht wissen können: Unter ihnen ist in Wagen 1 kurz vor dem Heide-Ort Eschede im Landkreis Celle der abgefahrene Stahlreifen eines ICE-Rades gebrochen und hat sich bereits zu einer gewaltigen Barriere aufgebogen. Am nächsten Hindernis muss es zwangsläufig zu einer verhängnisvollen Kollision kommen.

Nur noch 70 Sekunden sind jetzt Zeit, um vielleicht noch die Notbremse zu ziehen

Lediglich ein Fahrgast, der mit Freundin und Kind in Wagen 1 sitzt, berichtete unsere Zeitung am zehnten Jahrestag der Katastrophe auf Basis der Untersuchungen der TU Braunschweig, ist nach dem Knall elektrisiert und unternimmt etwas. Was er nicht wissen kann: Nur noch 70 Sekunden sind jetzt Zeit, um vielleicht noch die Notbremse zu ziehen. Der Fahrgast entscheidet, den Schaffner zu suchen.

Er durchquert Wagen 1, er durchquert Wagen 2, er findet den Schaffner in Wagen 3. Ansprechen, das Problem schildern – immerhin kommt der Bahn-Bedienstete sofort mit. Durch Wagen 3, durch Wagen 2 zurück, so verrinnen die Sekunden. 10.59 Uhr: Als beide endlich in Wagen 1 ankommen, passiert es: Ein Teil einer Weiche, vom gebrochenen Radreifen zerstört, schießt durch den Wagenboden hinauf bis zur Decke. Es ist ein sogenannter Radlenker. Im gleichen Moment entgleist das Drehgestell – nur 195 Meter vor der Brücke über die Rebberlaher Straße in Eschede ...

Das ist in nur wenigen Auszügen das erschütternde Protokoll des Gutachtens, das die Braunschweiger Bahnforscher erstellten. Im Auftrag der Staatsanwaltschaft waren sie von 1998 bis 2002 federführend mit der Untersuchung der Abläufe der ICE-Katastrophe befasst. Mit 200 Stundenkilometern schlägt der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ am Vormittag des 3. Juni 1998 in die Brücke ein und bringt sie zum Einsturz. Beim bislang schwersten Bahnunglück in der bundesdeutschen Geschichte kommen
101 Menschen ums Leben, 105 Reisende werden verletzt. Die Namen der Opfer sind an einer Gedenkstätte mit 101 Kirschbäumen am Unglücksort nachzulesen.

Heinrich Löwen: „Es ist keine Geschichte, die man so abhakt, das rührt einen schon an“

25 Jahre danach ist der verheerende Unfall für Hinterbliebene und Helfer immer noch sehr präsent. Heinrich Löwen, Sprecher der Hinterbliebenen, hat zum Jahrestag ein Buch mit dem Titel „ICE 884 – nach der ICE-Katastrophe von Eschede, Erinnerungen, Erfahrungen und Erkenntnisse“ geschrieben. Er betont, das gemeinsame Erinnern und Trauern sei wichtig.

„Es ist keine Geschichte, die man so abhakt, das rührt einen schon an“, sagt der 78-jährige Bayer, der damals seine Ehefrau und Tochter verloren hat. „Es ist nicht unbedingt leichter als früher, viele von uns sind auch älter geworden.“ Und damit manchmal auch einsamer. So ein Tag rufe einiges hervor.

In seinem Buch beschreibt er den langen Kampf um Entschädigung (30.000 Mark pro Todesopfer) und die Enttäuschung über die juristische Aufarbeitung. Ein Strafverfahren gegen die Bahn und den Radreifenhersteller wurde 2003 eingestellt. „Ich kann jetzt über das Verhältnis zur Bahn nicht klagen, aber der Unfall war absolut vermeidbar“, sagt Löwen. Die Kontrolle der Räder sei vernachlässigt worden, es habe kein Bewusstsein gegeben, dass ein Rad brechen kann.

Erkenntnis: „Die Zeit heilt nicht alle Wunden, macht aber ruhiger, besonnener“

„Es ist so lange Zeit vergangen, viele sagen, es muss jetzt gut sein. Aber für die Betroffenen ist es eine sehr schwere Erinnerung“, sagt Psychologe Georg Pieper über die Folgen einer Katastrophe wie Eschede. „Es geht vielen vor dem Jahrestag schlecht, es herrscht eine große Anspannung.“ Pieper hat Opfer und Angehörige der ICE-Katastrophe betreut. Er gilt als einer der erfahrensten Trauma-Experten und war auch nach dem Amoklauf von Erfurt 2002 und dem Grubenunglück von Borken 1988 im Einsatz.

„Ich finde solche Gedenkfeiern sehr wichtig, um die Toten zu ehren und dem Leid der Betroffenen gerecht zu werden. Es wird nichts geheilt, aber schweigen ist noch schlimmer“, sagt Pieper. „Es ist schon so, dass vieles verblasst. Aber für viele Angehörige ist es so, als wäre es gerade passiert. Da spielt Zeit keine Rolle“, erklärt er.

Nach so vielen Jahren würden viele versöhnlicher auf das Geschehene blicken, das sei hilfreich. „Die Zeit heilt nicht alle Wunden, macht aber ruhiger, besonnener.“ Das passiere bei Menschen, die viel darüber geredet und auch geweint hätten, erklärt der Krisenpsychologe. Menschen, die sich zurückziehen, verbitterten dagegen oft.

Kirschbäume am Gedenkort – und im Minutentakt rauscht der ICE durch

„Das Unglück hat die menschliche Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit gezeigt. Beispielhaft und aufopfernd haben Retter, Helfer und Bürger des Ortes selbstlos eine schwere Aufgabe angenommen, geholfen und getröstet. Durch ihren Einsatz ist Eschede auch ein Ort der Solidarität und gelebter Mitmenschlichkeit geworden“

Inschrift am Tor zur Gedenkstätte

Wenn man durch die Kirschbäume am Trauer- und Erinnerungsort in Eschede geht, dann gibt es immer diesen einen Moment: Ein ICE rauscht durch mit jener Geschwindigkeit, mit der auch damals der Unglückszug auf die Brücke prallte. Sie ist wesentlich verbreitert längst neu erstanden – und im Minutentakt schießen wieder die High-Tech-Züge hindurch.

Das Geräusch des nahenden Zuges schwillt an, presst sich in den schmalen Brückentunnel, geht in ein brutales Stakkato durchrauschender Waggons über – und durch Mark und Bein. Hinter den Scheiben kann man die Reisenden nur erahnen, entspannt, gedämmt, arglos. Was auch sonst?

Die ungeheure Kraft der Hochgeschwindigkeit, dazu unsere Verletzlichkeit erschließt sich dem Besucher dieser Gedenkstätte gleich im doppelten Sinne. Er liest die Namen der 101 Opfer, die einem fürchterlichen Unglück zum Opfer fielen. Und spürt gleichzeitig wie einen Druck diese physikalische Kraft: Von 200 Stundenkilometern auf Null abgebremst, waren die Opfer beim Aufprall des Zuges auf diese Brücke Kräften ausgesetzt, wie sie beim Aufprall nach einem Absturz aus 160 Meter Höhe entstehen. In Sekundenbruchteilen verwandelte sich der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ in ein Inferno aus Trümmern, Splittern und Geschossen.

Damals. Vor einem Vierteljahrhundert. Ich hörte am Morgen den neuen Sender „NDR Info“ – und es war etwas Schreckliches passiert. Von Toten, die auf dem Bahnsteig liegen, war die Rede. Eschede. Wo liegt das? Hart am Rand des Landkreises Gifhorn in der Südheide zwischen Celle und Uelzen. Als ich auf den Ort zufahre, sind etliche Hubschrauber in der Luft, haben an einem windstillen, sonnigen Frühsommertag eine dunkle Wolke aus aufgewirbelter Erde und Staub über den Unglücksort gelegt.

Die Eindrücke an diesem Tag sind düster und schwer zu beschreiben. Details brennen sich in das Gedächtnis ein. Eine endlose Schlange von bereitstehenden Leichenwagen auf der Rebberlaher Straße, die zur Unglücksbrücke führt. Anwohner, die in ihren Gärten direkt an der Bahnstrecke und mitten im Ort einen fürchterlichen Knall gehört haben – und dann diese Stille. Der Reporter will wissen, was passiert ist, will und muss berichten, aber er hält auch Distanz. Wie traumatisch und eingebrannt fürs Leben müssen und werden hingegen erst jene Bilder sein, die rund 2000 Ersthelfer und Einsatzkräfte am Unglücksort seitdem zu bewältigen haben.

Nachsorge- und Seelsorgekonzepte auch für sie bekommen auch durch dieses Unglück noch einmal eine neue Grundlage, das schreckliche Geschehen gilt auch als Initialzündung für eine flächendeckende psychosoziale Notfallversorgung.

Begonnen hatte alles mit dem berüchtigten „ICE-Brummen“ – über die Zugräder übertragene Vibrationen, die vor allem im Speisewagen für Unmut sorgten. Zur Abhilfe hatte die Bahn in den 1990-er Jahren für den ICE I, weltweit einzigartig, Räder mit gummigefederten Radreifen entwickeln lassen. Doch ein solches hatte Risse bekommen, die trotz Warnungen sträflich nicht beachtet wurden – und war in voller Fahrt gebrochen. Längst sind diese Räder nicht mehr im Einsatz, die Bahn setzt beim ICE auf Vollreifen und luftgefederte Drehgestelle.

Was bleibt, ist die Erinnerung und – hoffentlich – ein Bewusstsein für menschliche Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit.