Braunschweig. „All das, um ein inneres Gleichgewicht in vielen Dimensionen des täglichen Miteinanders der drei Billionen Zellen in unserem Körper zu gewährleisten.“

Wenn man eigene Kinder hat, kann man ab der Geburt in den ersten Lebensjahren fast jeden Tag beobachten, wie die jungen Erdenbürger Fortschritte machen, oft im wahrsten Sinne des Wortes, wenn sie laufen lernen. Mit dem Eintritt in die Pubertät werden dann auch Teile des Gehirns zu einer riesigen Baustelle mit vielen strukturellen Umstellungen, und mit der Beobachtung von Fortschritten wird es etwas schwieriger – aber auch das gibt sich ja wieder.

Innerhalb der Biologie und Medizin geht der Fortschritt einher mit einem besseren Verständnis der Abläufe in unserem Körper, beginnend mit der Interaktion von Molekülen wie Hormonen, Botenstoffen im Gehirn oder der genetischen Struktur unseres Erbmaterials, bis hin zu einem Verständnis darüber, wie Organe miteinander interagieren. All das, um ein inneres Gleichgewicht in vielen Dimensionen des täglichen Miteinanders der drei Billionen Zellen in unserem Körper zu gewährleisten oder die Temperatur, den Muskeltonus oder den Wasserhaushalt im Körper aufrecht zu erhalten.

Oberste Regelinstanz, sozusagen die Schaltzentrale im Körper

Dieses Bestreben eines jeden Lebewesens, sein inneres Milieu in einem bestimmten Rahmen konstant zu halten, nennt man Homöostase, und die oberste Regelinstanz, sozusagen die Schaltzentrale im Körper, ist das Gehirn – und im Gehirn die Nervenzellen (Neurone) zusammen mit Gliazellen, die in gleicher Zahl wie die Neurone vorkommen und helfen, auch im Gehirn ein inneres Gleichgewicht stabil zu halten.

Für einzelne Nervenzellen ist diese Homöostase sogar besonders kompliziert, da eine solche kleine Denkfabrik viele Empfangsantennen (Dendriten) für eingehende Signale hat – das können im Wunderwerk des Kleinhirns 10.000 Synapsen pro Neuron zu anderen Nervenzellen sein. Diese Signale werden zu einem weiteren eigenen Kompartiment, dem Zellkörper, geleitet, der die Erbinformation und die Hauptlast der Energieversorgung und Produktion von Proteinen enthält.

Axon, die bis zu einem Meter lange Datenautobahn eines Neurons

Dann erst kommt das längste Segment, das Axon, die bis zu einem Meter lange Datenautobahn eines Neurons, die die Signale elektrisch weiterleitet, bis sie wiederum am letzten und kleinsten Segment, den Synapsen, ankommen, die den so wichtigen Kontakt zu anderen Neuronen herstellen. Jeder dieser Bestandteile eines Neurons kann unabhängig mit den sie umgebenden Gliazellen interagieren und muss auch metabolisch mit Energie, Proteinen und Organellen versorgt werden.

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Weniger klar ist, und das ist Gegenstand einer durch das Land Niedersachsen und die VW-Stiftung geförderten Forschergruppe, wie diese einzelnen Segmente (Kompartimente) einer Nervenzelle zusammenarbeiten, und wie der Informationsaustausch innerhalb eines Neurons organisiert wird. Und um das verstehen zu können, was wiederum wichtig ist, um Erkrankungen der motorischen Koordination, wie bei Parkinson, oder Abbauprozesse im Alter, wie bei der Alzheimer-Krankheit, besser zu verstehen und durch dieses bessere Verständnis behandelbar zu machen, braucht man Fortschritte in der Präzision biomedizinischer Geräte.

Erst mit der Erfindung des Teleskops war es möglich, den Weltraum zu erforschen

Zur Verdeutlichung sei daran erinnert, dass es erst mit der Erfindung des Teleskopes möglich war, genauer den Weltraum zu erforschen und mit einem umgedrehten Teleskop, also einem Mikroskop, einzelne Zellen zu sehen. Aber auch das reichte nicht, um zum Beispiel Viren zu entdecken und sichtbar zu machen, das ging erst mit der Erfindung des Elektronenmikroskops durch den deutschen Elektroingenieur Ernst Ruska, der dafür auch den Nobelpreis bekam. Allerdings gelang dies erst mehr als 10 Jahre nach der so verheerenden Grippewelle von 1918 bis 1920, an der wahrscheinlich 50 Millionen Menschen weltweit verstorben sind, ohne dass man den Erreger kannte – man konnte ihn schlichtweg nicht sichtbar machen.

Biologischer und medizinischer Fortschritt geht also auch einher mit einem methodischen Fortschritt. Und am besten gelingt dies, wenn hierbei Ingenieure, Physiker, Chemiker, Biowissenschaftler und Mediziner zusammenarbeiten, genauso wie wir dies an der TU Braunschweig, dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung zusammen mit dem Max-Planck-Institut in Göttingen und der Medizin in Lübeck versuchen. Dass dies als wichtig angesehen wird, auch um neue Wirkstoffe zu testen oder frühe Biomarker zu entdecken, die helfen können, wie im Fall unserer Forschergruppe, Epilepsie, Parkinson oder die Alzheimer-Erkrankung besser zu verstehen und dann zielgerichteter zu behandeln, sieht man auch daran, dass wir bei einem Symposium in der letzten Woche im Haus der Wissenschaft weltweit führende Experten aus New York, Tampere, Hongkong, Toronto, Luxemburg, Berlin, Göttingen, Lübeck, Freiburg, Bonn oder Amsterdam nach Braunschweig locken konnten.

Austausch vor Ort geht geht mit der Entstehung neuer Ideen einher

Hierbei wurde auch deutlich, dass es wichtig ist, dass Wissenschaftler/innen sich nicht nur abstrakt über Publikationen oder über Kacheln auf Bildschirmen begegnen, sondern ein reger und oft ungeahnter Austausch nur vor Ort („live“) mit der Entstehung neuer Ideen einhergeht, und dies geschieht nicht nur im Vortrag, sondern auch in Kaffeepausen und auf dem Weg vom Hotel zur TU Braunschweig. Denn neue, ungeahnte Ideen, auch die Verabschiedung von veraltetem Textbuchwissen, sind ebenso wichtig wie die Verbesserung der biomedizinischen Methoden. In unserem Fall befeuern die Ideen der Neurowissenschaftler die notwendigen Verbesserungen der Tüftler und Bastler unter den Verfahrens- oder Elektroingenieuren ebenso wie deren Ideen zur Anwendung neuer Methoden neue Anwendungen in der Biologie und Medizin erlauben. Schön, dass in diesem Fall das Haus der Wissenschaften und die TU Braunschweig für diese konkrete Fragestellung der Homöostase von Neuronen in der Interaktion mit Gliazellen der gefühlte Nabel der Forscherwelt im zart beginnenden Frühling waren.

Erfolgsautor Prof. Martin Korte („Long Covid – Wenn der Gehirnnebel bleibt“, „Frisch im Kopf“) von der TU Braunschweig ist einer der bekanntesten deutschen Gehirnforscher. Er berät große Wissens-Shows im TV und schreibt für unsere Zeitung.