Braunschweig. Braunschweig: Die Autorin nutzt ihre Auszeichnung für eine berührende Rede über die Magie von Literatur. Sie führt auf einen Friedhof.

Den Raabe-Preisträgern wird in der Stunde der Verleihung stets Hochachtung entgegengebracht, von den Laudatoren, von den Oberhäuptern der Stadt Braunschweig und des Deutschlandradios als Preisstiftern, vom Publikum im Kleinen Haus des Staatstheaters. Aber nur selten ist derart spürbar, dass man ihnen auch mit großer Zuneigung begegnet, dass viele der Honoratioren und Literaturfans im Saal ihre Bücher tatsächlich gelesen haben, und dass sie davon berührt sind, wie an diesem Sonntagmorgen bei der Auszeichnung von Judith Hermann.

Die 53-jährige Berlinerin wird für ihr jüngstes Buch gewürdigt, das autobiografisch grundierte „Wir hätten uns alles gesagt“. Sie hat sich darin mit dem eigenen Schreiben und Leben auseinandergesetzt, wenn auch nicht in Form einer direkten Offenlegung, sondern als fast traumwandlerische Erzählungs- und Erinnerungskomposition, die Fiktion erlaubt, wenn sie das Aufscheinen grundlegenderer Wahrheiten ermöglicht. Poetischer Realismus, wie Hermann später in ihrer Dankesrede mit Bezug auf den Preis-Paten Wilhelm Raabe sagt.

Deutschland-Radio Intendant Raue: Ich-Bezogenheit als Kennzeichen unserer Zeit

Den autobiografischen oder auch Selbstbezug bezeichnet Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue in seiner Rede als Kennzeichen unserer Zeit. In der Literatur, wo die Nabelschau boome, aber auch im Journalismus, wo es für viele jüngere Kolleginnen und Kollegen selbstverständlich geworden sei, das Ich einzubringen, wie in der Gesellschaft überhaupt. Das sei einerseits mutig, denn es biete Angriffsflächen und mache verwundbar. Andererseits dränge „das Ich sich desto mehr in den Vordergrund“, je mehr sinnstiftende Institutionen wie Kirche, Parteien, Gewerkschaften, klassische Medien an Relevanz verlören. Problem: „Die Versammlung der Ichs produziert Rechthaberei und Separatismus“.

Wie wohltuend hebe sich davon das Werk Judith Hermanns ab mit seinem schwebenden, hinterfragenden, andeutenden und wieder verbergendem Gestus. „Ich bin nicht sicher. Nicht wirklich sicher“, sei so ein typischer Satz der Autorin. „Mein Lieblingssatzzeichen“, bemerkt Hermann später im Gespräch mit Moderatorin Cécile Schortmann, „ist eigentlich das Semikolon“. Fragezeichen hätten dagegen etwas Aufdringliches.

Wie Judith Hermann mit Ambivalenz tröstet

In ihrer Dankesrede greift sie dann ein Raabe-Zitat auf: „Es ist keine Rettung in der Welt vor der Welt“. So apodiktisch sollte man den Satz nicht stehenlassen, sondern umformulieren, als Frage, aber ohne Fragezeichen, so dass er ganz in der Schwebe bleibe: „Gibt es eine Rettung in der Welt vor der Welt.“

Laudatorin Dr. Wiebke Porombka, Literaturredakteurin beim DLF, macht kundig auf zahlreiche Querverweise in Hermanns Werk aufmerksam, zeigt sich als versierte Literaturwissenschaftlerin, sagt aber auch Sätze, die hängenbleiben, wie: „Es ist der Trost der Ambivalenz, der ihr Werk grundiert, das Misstrauen gegen die Eindeutigkeit, die Entscheidung für das Ungefähre.“ Und sie spricht von der „magisch-existentiellen Kunst Hermanns“.

Welche Antworten ein Friedhof gibt

Das trifft sicher einen Punkt: Hermanns Gabe des Umkreisens, Andeutens, Verbildlichens des schwer zu Greifenden, das die Welt und die Menschen zusammenhält oder auch auseinandertreibt. Diese Kunst ist keine reine Kopfsache. Hermann spricht selbst von der Intuition dafür, wann und wo sich im alltäglichen Erleben der Keim einer Geschichte verbirgt, die darüber hinausweist. Ihre Dankesrede ist genau deshalb der Höhepunkt der Preisverleihung: Weil sie sich zu einer Geschichte verselbständigt.

Hermann erzählt etwa von einer Lesung, bei der die Veranstalter ihr eine zierliche alte Psychoanalytikerinzugesellt hätten, die sie anschließend auf dem Weg zum Hotel über einen kleinen Friedhof geführt habe. „Vor den Gräbern waren die Kerzen in den roten Grablichtern angezündet, die Dunkelheit war voller freudig tanzender Flämmchen, windiger widerständiger Feuer. Wir standen unter den Ulmen und hörten zu, wie es tropfte, im Laub raschelte, friedlich, in gewisser Weise eine Antwort auf etliche, wenn nicht auf alle Fragen.“ Am nächsten Morgen kann sie den Friedhof nicht mehr wiederfinden. Das ist in jeder Hinsicht traumhaft und typisch Hermann, auch im Ton.

Der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis erinnert an den Braunschweiger Schriftsteller und poetischen Realisten (u.a. „Der Hungerpastor“, „Die schwarze Galeere“). Er wurde am 8. September 1831 in Eschershausen geboren und ist am 15. November 1910 in Braunschweig gestorben.
Der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis erinnert an den Braunschweiger Schriftsteller und poetischen Realisten (u.a. „Der Hungerpastor“, „Die schwarze Galeere“). Er wurde am 8. September 1831 in Eschershausen geboren und ist am 15. November 1910 in Braunschweig gestorben. © picture-alliance/ dpa | dpa

Warum Judith Hermann den Raabe-Preis ihren Eltern widmet

Während sie ihre Eltern, insbesondere ihren Vater, in ihrem preisgekrönten Buch in eher düsteren Farben vorstellt, würdigt sie sie in ihrer Dankesrede sehr liebevoll. „Es sind meine Eltern, die mich in die Vorlesung hinein und wieder hinausgeführt haben“, sagt sie mit Bezug auf ihre Frankfurter Poetikvorlesung, die Grundlage von „Wir hätten uns alles gesagt“. „Eigentlich müssten meine Eltern diesen Preis bekommen, er gehört ihnen. Ohne sie wäre er für mich nicht.“

Nun schildert Hermann die Eltern als altes, schon ein wenig weltabgewandtes Ehepaar. Allabendlich lese die Mutter dem Vater vor. Und siehe da, kurz bevor sie, Judith, von ihrer Raabepreis-Auszeichnung erfährt, hätten sie sich ausgerechnet Raabes „Die Akten des Vogelsangs“ vorgenommen. Hermann lässt ihren Vater den Bogen zu Raabes romantischem Debüt „Die Chronik der Sperlingsgasse“ schlagen. An die Handlung könne er sich nicht mehr erinnern, „aber deutlich an das Glück der Lektüre, an die Geborgenheit, die träumerische Aussicht“.

Gott oder Teufel - wer wird die Welt beherrschen?

Sie spricht die „Larmoyanz“ an, die Rührseligkeit Raabes und seiner Figuren, die einerseits störe und ihr doch nahe sei. Sie erwähnt in Bezug auf ihre Eltern ein weiteres Raabe-Zitat: dass im Alter „die Erinnerung an Stelle der Hoffnung“ trete. Das klingt bei Hermann nicht resignativ: Ihre Erzählungen sind ja oft Neuordnung und damit Fruchtbarmachung von Erinnerung. Darin liegt auch die Chance auf Veränderung.

In ihrer Dankesrede lässt sie ihren Vater schließlich noch einmal auf Raabe anspielen, auf seine Erzählung „Das Odfeld“. „Ob am Ende Gott oder der Teufel diese Welt beherrschen werden, das lässt Raabe offen“, sagt der Vater. „Eine Leerstelle. Und ich habe gehört, mit Leerstellen kennst du dich aus.“

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