Braunschweig. Braunschweig: Die renommierte Schriftstellerin spricht über autobiografische Wahrheit in der Literatur - und den Eisberg in Kurzgeschichten.

Judith Hermann wurde mit meisterhaft lakonischen, atmosphärisch dicht gewebten Kurzgeschichten bekannt. Sie veröffentlichte vier Bände mit Erzählungen, zwei Romane und zuletzt das autobiografisch geprägte Buch „Wir hätten uns alles gesagt“. Es ist der Text ihrer Frankfurter Poetikvorlesung - einer traditionsreichen Vortragsreihe, in der namhafte Schriftsteller eingeladen werden, über ihr Werk zu sprechen. Für das Buch wird die 53-jährige Berlinerin am 5. November mit dem mit 25.000 Euro dotierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. Wir sprachen mit ihr über Dichtung, Wahrheit und das kaltblütige Glück von Kurzgeschichten.

Sie erhalten den Raabe-Preis insbesondere für den Text einer Vorlesung, Ihrer Frankfurter Poetikdozentur, in der Sie über Ihr Leben und Schreiben reflektiert haben. Nun wird der Raabe-Preis eigentlich für ein erzählerisches Werk verliehen. Betrachten Sie „Wir hätten uns alles gesagt“ eher als ein erzählerisches oder literaturtheoretisches Werk?

Es ist sicher mehr erzählerisch als literaturtheoretisch. Die Aufgabe einer Poetikdozentur ist etwas vertrackt; die Aufforderung, einen literaturtheoretischen Text zu schreiben, ergeht hier an einen Schriftsteller in Bezug aufs eigene Werk. Aber als Schriftstellerin kann ich mein eigenes Werk nur schwer poetologisch beurteilen, ich bin viel zu nah dran. Ich kann es schreiben, aber ich kann es auf eine Weise nicht wirklich sehen, nicht ansehen. Ich glaube, ich bin der Aufgabe eigentlich ausgewichen und habe mich ins Erzählerische geflüchtet.

Trotzdem reflektieren Sie immer wieder über Ihr Schreiben. Schon im Untertitel stellen Sie ja eine steile These auf: Dass Ihr Werk eigentlich ein „Schweigen und Verschweigen“ sei. Wie kann Literatur ein Schweigen sein?

Ein Text kann ausgesprochen verschwiegen sein. Erzählen kann ausgezeichnet ablenken, es kann täuschen, hinter dem vorgeblich Erzählten kann etwas ganz anderes, viel Bedeutsameres stattfinden. Etwas, das im Subtext aufgehoben wird - sprichwörtlich zwischen den Zeilen.

Warum können Sie „das Eigentliche“, wie Sie es nennen, nicht direkt ansprechen?

Oh - ich glaube, ich will das Eigentliche gar nicht ansprechen? Es kommt darauf an, was es ist. Wenn das Eigentliche klar und einfach und definierbar ist, kann man es natürlich zeigen, und das tue ich auch ab und an. Aber wenn das für mich Eigentliche etwas ist, das ich nicht richtig fassen kann, etwas, das sich zeigt und dann sofort wieder verbirgt, dann kann ich es nur auf eine ungefähre Weise festhalten. Etwas Metaphysisches kann man nicht konkret beschreiben, man muss es schreibend einkreisen. Sorgfältig oder behutsam darum herum schreiben.

Andererseits erklären Sie, dass Sie sich nichts ausdenken, nicht aus der Wirklichkeit hinaus, sondern „in diese eine unbegreifliche Wirklichkeit hinein“ wollten. Warum ist die Wirklichkeit für Sie so unbegreiflich?

Ich empfinde die Wirklichkeit mitunter als völlig unbegreiflich. Sie etwa nicht? Die vorgeblichen und scheinbar vernünftigen Strukturen unseres Alltags und hinter diesen alltäglichen Abläufen das absolute Chaos. Ein Abgrund, und die grundsätzlichsten einfachsten Fragen bleiben ohne eine Antwort. Schreiben ist das Bedürfnis, sich dem, was im Grunde nicht zu verstehen ist, zumindest irgendwie doch zu nähern. Wider besseren Wissens.

In „Wir hätten uns alles gesagt“ geht es auch um den autobiografischen Gehalt Ihres Werks. Sie erklären, „ich schreibe am eigenen Leben entlang. Ein anderes Schreiben kenne ich nicht“. Später heißt es dann, Sie würden alles so verfremden und entstellen, „das am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr“. Schönes Paradox - aber was für eine Wahrheit ist gemeint?

Tja. Ich freue mich über diese Frage, ich stelle sie mir auch. Was genau ist der Unterschied zwischen richtig und wahr? Richtig sind die Fakten, Wahrheit ist vielleicht Intuition oder ein Gefühl. Und was ist am Ende wichtiger: ein Fakt oder eine gefühlte, aber möglicherweise falsche Erinnerung? Das weiß ich selber nicht so richtig, aber ich würde annehmen, dass Wahrheit sehr viel mehr mit einer Haltung des Herzens zu tun hat, als mit einer realistischen Zusammenfassung der Dinge.

Eine große Rolle in „Wir hätten uns alles gesagt“ spielt das Verhältnis zu ihrem Vater, der sich in Ihrer Kindheit mehr oder weniger um sie kümmerte, während Ihre Mutter arbeiten ging. Ihr Vater kommt nicht besonders gut weg. Sie schildern ihn als einen depressiven, an sich selbst leidenden, aber auch ganz auf sich fokussierten Menschen. War es eine schwierige Entscheidung, das zu thematisieren?

Eigentlich war es gar keine Entscheidung. Das Verhältnis zu meinem Vater hat mich und somit auch mein Schreiben geprägt, es wäre unsinnig gewesen, davon nichts zu erzählen. Aber ich hatte auch angenommen, dass dieses Erzählen gewissermaßen in der Frankfurter Goethe-Universität bleiben würde, ich hatte den Text geschrieben, um ihn vorzulesen, nicht, um ihn veröffentlichen, für mich war das ein wichtiger Unterschied. Die Vorstellung, den Text nur vorzulesen hieß, ihn eigentlich zu behalten, und vermutlich ist er deshalb so persönlich geworden. Wenn ich gewusst hätte, dass aus den Vorlesungen ein Buch werden würde, hätte ich sie nicht geschrieben, und trotzdem bereue ich die Publikation der Vorlesungen nicht.

Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Ja. Merkwürdigerweise hat mein Vater mir zugeraten, die Vorlesungen zu veröffentlichen, vielleicht auch deshalb, weil das Buch aus ihm letztlich ja doch so etwas wie eine literarische Figur macht. Und das kann entlastend oder auch entschärfend sein. „Wir hätten uns alles gesagt“ literarisiert unsere schwierige Familiengeschichte, wie faktisch autobiografisch auch immer ich erzähle. Für meinen Vater mag das eine Art von Abstand hergestellt haben, einen Abstand, der vielleicht tröstlich gewesen ist. Ich will den Tag nicht vor dem Abend loben. Aber ich stelle mir doch vor, dass sich das im Fall meiner Familie durch das Buch so ergeben hat.

Als Ihre größte Begabung gilt die Kurzgeschichte. Ihre vier Bände mit Kurzgeschichten waren Ihre größten Erfolge. Was reizt Sie an dieser Form?

Das offene Ende? Eine Kurzgeschichte darf mit einer Frage aufhören, sie braucht kein Fazit, keine endgültige Erkenntnis. Keinen Schlussstrich. Sie weiß es auch nicht, sie darf - so wie ich - ratlos sein. Der geneigte Leser kann sich dieser Ratlosigkeit annehmen, er kann die Frage, die Geschichte, die Wege ihrer Figuren weiterspinnen, auch wenn auf dem Papier schon alles zu Ende gegangen ist. Raymond Carver hat das „fast in fast out“ genannt, ein schneller, mutiger, kurzer und fest entschlossener Schritt in einen Text hinein, zu seinem Wendepunkt hin und wieder raus. Beinah kriminell. Kaltblütig und sehr beglückend.

Wenn die Form der Kurzgeschichte etwas sehr Offenes hat, was hält sie dann zusammen? Was macht eine gute Geschichte aus?

Hemingways Bild vom Eisberg ist immer noch ein schönes Bild finde ich - nur die Spitze des Eisberges ist sichtbar, das eigentliche schwere Bergmassiv bleibt unter Wasser. Eine gute Geschichte ist - enigmatisch? Sie hat ein magisches Moment, man fühlt sich berührt von etwas, das man nicht benennen, schwer beschreiben kann. Der Autor einer guten Geschichte muss sehr viel mehr von seinen Figuren wissen, als er in der Geschichte erzählt. Er muss alles wissen, darf aber nur ganz wenig verraten. Das ist eine Herausforderung, durchaus.

Wollen Sie mit Ihren Kurzgeschichten etwas über die Wirklichkeit verraten?

Ich möchte zumindest auf etwas ganz Kleines aus dieser Wirklichkeit hinweisen. Ich möchte es festhalten und darauf bestehen, diesem einen vorgeblich sehr Kleinen eine irrationale Bedeutung beizumessen. Eine Kurzgeschichte will immer auf etwas hinaus, auf etwas Größeres, das sich hinter diesem unscheinbaren Kleinen verbirgt. Vielleicht ist das das Gegenteil von Wirklichkeit - und trotzdem ist es mit der Wirklichkeit fest verbunden.

Am Sonntag werden Sie mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet und in Ihrer Dankesrede vermutlich auch ein wenig auf ihn eingehen. Bedeutet Ihnen dieser Autor etwas?

Ich hatte kein Verhältnis zu Raabe, und ich habe ihn auch fast nicht gekannt. Jetzt habe ich mich mit ihm auseinandergesetzt, und das ist durchaus ein Geschenk für mich gewesen.

Wie wichtig sind Literaturpreise für Sie als Schriftstellerin?

Ich glaube, sie sind ziemlich wichtig und sie sind ein bisschen - heikel. Sie sind eine mit einem Fragezeichen versehene Legitimation. Schreiben ist fragil. Es ist nichts, was man ein für alle Mal könnte - ein Buch geschrieben zu haben, bedeutet in keiner Weise, ein weiteres schreiben zu können. Mein nächstes Buch steht in den Sternen. Ein Preis bedeutet, für eine kurze Weile legitimiert und offenbar erstaunlicherweise eine Schriftstellerin gewesen zu sein, und das kann zunächst etwas Beruhigendes haben. Aber diese Beruhigung ist nicht verlässlich und sie ist vor allem nicht von Dauer. Und sicher ist das ganz genau richtig so.