Braunschweig. Gregor Zölligs Choreographie des Orff-Stücks mit packenden Chören und energisch tanzender Compagnie wurde im Staatstheater bejubelt.

Wom, das haut erstmal rein. Ein gleißender Lichtstrahl voll ins Publikum, dazu die gesammelte Kraft von hundert Chorstimmen, die „O Fortuna“, die unerbittliche Macht des höchst wandelbaren Schicksals beschwören, unterstützt vom groß ausgelegten Staatsorchester, das mit perkussiver Gewalt den unausweichlich fortschreitenden Takt des Zeitlichen betont. Man duckt sich unwillkürlich weg unter dieser von Carl Orff zur Nazi-Zeit neu formierten Archaik.

Gut, dass vor diesem chorisch-orchestralen Großaufgebot schon die Braunschweiger Tanzcompagnie auf der bis in den Zuschauerraum ausgebauten Bühne unterwegs ist, die Tanzenden mit flüssigen Bewegungen ihren Kreis sprengen und den Massenritus ins Menschlich-Individuelle auflösen. Gregor Zöllig hat mit ihnen sehr schöne, schmiegsame Bewegungen erarbeitet, die zwar im Rhythmus sind, aber mit Weichheit, impulsiver Freude, manchmal augenzwinkernder Laszivität getanzt werden.

Noriko Nishidate in „Carmina Burana“ am Staatstheater Braunschweig.
Noriko Nishidate in „Carmina Burana“ am Staatstheater Braunschweig. © Staatstheater Braunschweig | Januszewski

Die Compagnie macht das großartig, nicht nur mit voller Energie, immenser körperlicher Flexibilität und Ausdauer, sondern auch mit schauspielerischem Ausdruck, mal glücklichen Gesichtszügen, mal ernster Anspannung, mal erotischem Interesse zwischen Sehnen und Flirt. Da läuft dann Rei Okunishi an dem schon aufstrahlenden Mátyás Ruzsom vorbei jemand anderem in die Arme, und er muss sich tröstend selber streicheln.

Genderfluide Erotik zu Orffs Rhythmen

Nun handeln diese sehr weltlichen Lieder aus Benediktbeuren auch von Massenbesäufnis und sexueller Übergriffigkeit. Ruzsom schwingt als besoffener Abt von Kukanien eine Stange über und um sich, dass sich alle ducken müssen, aber einmal erklimmt die Tänzerin kämpferisch dieses Machtobjekt. Meistens aber begegnet Zöllig dem Derb-Vitalistischen von Text und Musik, indem seine Tanzenden eben ganz selbstverständlich in verschiedensten Geschlechtskonstellationen Nähe suchen, in liebevoller Offenheit oder auch lustiger Naivität, wenn etwa der fröhlich auf alle zuspringende Lucas Roque Machado immerzu wieder sein T-Shirt aus- und anzieht. Es ist nichts Aufdringliches in dieser Erotik, läuft jemand jemandem hinterher, ist es Spiel und Ausgelassenheit.

Michael D’Ambrosio für sich und María Gabriela Luque in „Carmina Burana“ am Staatstheater Braunschweig.
Michael D’Ambrosio für sich und María Gabriela Luque in „Carmina Burana“ am Staatstheater Braunschweig. © Staatstheater Braunschweig | Januszewski

Rührend schön die Szene, wenn Michael D’Ambrosio für sich und María Gabriela Luque ein Tuch zum Laken ausbreitet, das später zum Sparringseil, zu Augenbinde und gemeinsamem Verband wird. Die halbe Compagnie kommt mit solchen Tüchern dazu, präsentiert sich den Vorbeiwandelnden einladend, eine Liegewiese der erotischen Versuchung. Und nachher haben wir gendergemischte Zweierpaare, auch Dreier und mit sich glückliche Solitäre.

Kokette Kontaktaufnahme auch mit Publikum

Zöllig hat diese Frühlingsspiele kokett aufs Publikum erweitert, wenn die Tänzerinnen und Tänzer sich an der Rampe in ihren jeweiligen Sprachen vorstellen und dabei den Zuschauenden zuzwinkern. Die Compagnie macht das höchst sympathisch. Solche erfrischend diesseitigen Szenen hatte Zöllig früher in seinen Stücken öfter, und auch jetzt hätte man gern noch mehr von diesen jungen Leuten aller Nationen gehört, vielleicht über ihre ersten Gefühle oder Wünsche für die Zukunft.

Das Tanzensemble lässt den Stein des Schicksals wieder steigen in „Carmina Burana“ am Staatstheater Braunschweig.
Das Tanzensemble lässt den Stein des Schicksals wieder steigen in „Carmina Burana“ am Staatstheater Braunschweig. © Staatstheater Braunschweig | Januszewski

Nach so viel Anbahnung und Vorspiel spart Zöllig dann auch die im Text beschworene „felix coniunctio“ nicht aus. In blaues Nachtlicht getaucht, ziehen sich Mátyás Ruzsom und Alice Baccile voreinander aus und tanzen zu dem herrlichen Sopran-Solo von Gabriela Hrženjak einen geschmeidigen Pas de deux, bei dem sie fast die ganze Zeit an seinen Armen oder auf seinen Hüften schweben darf, in einem Himmel der Lust. Aber auch sie schafft es, ihn in der Luft zu kreiseln, wie bei Siegfried und Brünnhilde, das nennt man wohl gleichberechtigte Beziehung.

Überwältigende Stimmkraft der Chöre

Über all dem senkt sich ein roter Meteorit, kaum spürbar zunächst. Christian Schmidt hatte dieses Bild einst in Hamburgs „Simone Boccanegra“ zum Symbol des unaufhaltbaren Schicksals und ephemeren menschlichen Kampfes gemacht. Bei Jasna Bosnjak aber beginnt dieser Stein nach dem Beinahe-Crash in der Stock-Szene sich wieder zu heben, als könnten menschliches Mühen und Lieben die Katastrophe doch aufhalten. Das Schicksalsrad dreht sich ja auch wieder nach oben, die Compagnie tanzt die Wiederholung auf (Neu)Anfang.

Vorzüglich wirken Staatstheater-Chor und -Kinderchor sowie der Domchor zusammen, reizt Srba Dinic am Pult mit dem Staatsorchester die dynamischen Wechselfälle der kraftvollen Partitur Orffs aus. Der sonst so verlässliche Bassbariton Maximilian Krummen hatte etwas Schwierigkeiten mit den Höhen der Wut-Arie, war aber dann wieder gut präsent, auch im Falsett. Matthew Peña bewältigt die exaltierte Höhe des Schwans gut. Von unglaublicher Brillanz gelingt Gabriela Hrženjak das himmlisch hohe „Dulcissime“.

Ovationen für ein packendes Gesamtkunstwerk, das alle Chancen zum Publikumsrenner hat.

Wieder am 9., 12., 17., 24. November, 3., 8., 13., 29., 31. Dezember, 3., 18, Februar.
Karten: Telefon (0531) 1234567 und www.konzertkasse.de