Braunschweig. In der autobiografischen Erzählung „Wir hätten uns alles gesagt“ lotet die Schriftstellerin ihre Lebensgeschichte aus - mit Folgen.

Judith Hermanns literarische Karriere begann traumhaft, von null auf hundert, 1998 mit dem Erzählungsband „Sommerhaus, später“. Neun Kurzgeschichten, die alles hatten, was das Genre attraktiv macht: mit wenigen, präzisen Sätzen umrissene untergründig spannungsvolle Situationen, in die man sofort hineingezogen wird. Protagonisten aus dem Hier und Jetzt, unmittelbar präsent, alltäglich und doch voller Geheimnisse. Plots, die sich beiläufig verdichten. Offene Enden, die Leser in einem seltsam angeregten Schwebezustand entlassen. Elegante, kühle und doch empathische Prosa.

Seitdem zählt Hermann zu den viel beachteten zeitgenössischen Schriftstellerinnen, auch wenn ihr Werk mit drei weiteren Kurzgeschichtenbänden und zwei Romanen, über die die Kritik teils gespalten war, vergleichsweise schmal ist. In ihrem jüngsten, mit dem Raabe-Preis gekrönten Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ taucht die 53-jährige Berlinerin nun tief in ihre Lebens- und Werkgeschichte ein, bis hinab in den offenbar düsteren, ja unheimlichen Keller, als den sie ihre Kindheit empfand.

Wie Judith Hermann unter dem Jähzorn ihres Vaters litt

Eine zentrale Figur: ihr Vater, ein von Depressionen geplagter Mathematiker. Während Hermanns Mutter als Angestellte das Geld für die Familie verdiente - „meine Mutter kam unbegreiflich spät nach Hause, manchmal hatte ich den Eindruck, ich hätte mir meine Mutter nur eingebildet“ - verzweifelte ihr Vater daheim an seiner Promotion und kümmerte sich um Judith und ihre jüngeren Geschwister. Mehr oder weniger.

„Der Jähzorn meines Vaters brach aus heiterem Himmel über mich, über uns herein“, schreibt Hermann. „Er zerstörte das Mobiliar, zerbrach Dinge, er zerfetzte, zertrat, zerriss sie, er wütete, hatte Schaum vor dem Mund. Anfälle. Wenn sie vorüber waren, mussten sich alle hinlegen.“

„Wir hätten uns alles gesagt“ - Die Dunkelheit der frühen Jahre

Ihre Art zu schreiben sei durch diese frühen Jahre geprägt worden, die sie zumeist zurückgezogen in einer abgedunkelten Wohnung mit Vater, Großmutter, Onkel verbracht habe - in vieler Hinsicht rätselhaften Erwachsenen, erklärt die Schriftstellerin. Von Beginn an sei ihr vieles unergründlich gewesen, und anderen unsagbar, man verschwieg es besser. Wohl darum auch ihre literarische „Geheimniskrämerei“, wie Hermann, eine Meisterin des Andeutens, Auslassens, Hinweisens, schreibt. „Die Familie ist nicht das einzig Ungeheuerliche, was dir geschieht. Am Ende ist alles ungeheuerlich.“

„Wir hätten uns alles gesagt“ ist trotz der komplexen Thematik - Familie, Beziehungen, Reflexionen über die Unergründlichkeit des Lebens und das Schreiben darüber - kein schwer zu lesendes Buch. Hermanns Stil zeichnet eine kühle Eleganz und Poesie aus, er ist präzise, anschaulich und manchmal angenehm selbstironisch. Sie erzählt auch von einer Psychoanalyse, von ihren hedonistischen Jahren zwischen 20 und 35, von schillernden Freunden. Es ist eine autobiografische Erzählung mit literaturtheoretischen Intarsien - aber Belletristik, kein Sachbuch. „Hat er das getan?“, beschließt Hermann die Beschreibung des merkwürdigen Benehmens ihres Vaters, als sie ihn in der Psychiatrie besucht. „Oder habe ich mir das ausgedacht.“

Die Wahrheit liegt für Hermann nicht in Namen und Fakten, sie scheint durch das kunstvolle Gewebe ihrer Geschichten hindurch.