Brüssel. Russland soll mit der Stationierung von Atomwaffen in Belarus begonnen haben – doch Experten zweifeln daran. Ist es nur Propaganda?

Mit einem dringenden Appell an Russland und Belarus versuchte der Chefdiplomat der Europäischen Union eine neue Atomdrohung mitten im Ukraine-Krieg zu verhindern: „Die EU fordert Russland und Belarus auf, die Entscheidung über die Stationierung von Atomwaffen auf dem Hoheitsgebiet von Belarus rückgängig zu machen“, erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in einem Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt.

Belarus könne immer noch Zurückhaltung üben und nicht weiter zur Eskalation beitragen. „Eine weitere Eskalation wird zu einer entschlossenen Reaktion der EU führen“, drohte Borrell. Doch die Warnung des Spaniers verfehlte ihre Wirkung. Moskau und Minsk haben die Stationierung von taktischen Atomwaffen in der Ex-Sowjetrepublik Belarus, die Ende März angekündigt worden war, in dieser Woche vertraglich fixiert.

Darin seien die Zahl der Waffen und Orte der Lagerung festgelegt worden, sagte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko bei einem Besuch in Moskau, Details nannte er nicht. Nach Moskauer Darstellung sind belarussische Bomber bereits entsprechend umgerüstet worden, Belarus haben auch schon atomwaffenfähige Iskander-Raketensysteme erhalten. Die Hoffnung des EU-Außenbeauftragten, die Pläne ließen sich noch rückgängig machen, haben sich damit wohl erledigt.

Lukaschenko: Stationierung von Atomwaffen hat bereits begonnen

Allerdings: Die Umstände der angekündigten Aufrüstung mit taktischen Atomwaffen, die eine begrenzte Reichweite von einigen hundert Kilometern haben, werfen Fragen auf – vieles sieht bislang vor allem nach einem Propaganda-Manöver aus, das den Westen beunruhigen soll, wegen seiner Durchschaubarkeit aber seine Wirkung verfehlt. Rätselhaft bleibt vor allem der Zeitplan: Lukaschenko behauptet jetzt überraschend, mit der Stationierung sei bereits begonnen worden.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte allerdings vor zwei Monaten erklärt, dass die erforderlichen Bunkeranlagen erst am 1. Juli fertiggestellt sein sollten, und danach wolle Russland die Atomwaffen nach Belarus bringen. Das eine wie das andere wird von westlichen Experten bezweifelt. Denn so schnell lassen sich solche Bunkeranlagen kaum errichten.

Der russische Präsident Wladimir Putin.
Der russische Präsident Wladimir Putin. © AFP | Mikhail Metzel

Der Bau eines unterirdischen Atomwaffen-Lagers in der russischen Enklave Kaliningrad etwa, den westliche Geheimdienste per Satellitenaufklärung gut verfolgen konnten, dauerte mehrere Jahre. Hinweise auf entsprechende Baumaßnahmen in Belarus gibt es nach Angaben westlicher Militärkreise nicht. „Ich habe mir einige der wahrscheinlichen Stützpunkte angeschaut und sehe nichts, was auf den Bau eines Atomlagers hindeutet“, sagt auch der US-Atomexperte Hans Kristensen, Direktor des nuklearen Informationsprojekts bei der Federation of American Scientists.

Spekuliert wird, dass die Sprengköpfe eines Tages auf dem Militärstützpunkt Nowokolosowo oder unweit des Flugplatzes Lida nahe der Grenze zu Polen stationiert werden könnten; in deren Umgebung lagerten schon während des Kalten Krieges sowjetische Atomwaffen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vollständig abgezogen wurden. Die Regierung in Minsk unterzeichnete damals den Atomwaffensperrvertrag und erhielt im Gegenzug 1994 im Budapester Memorandum von Russland, den USA und Großbritannien die Garantie für ihre staatliche Souveränität, ebenso wie die Ukraine.

Atomwaffen: Lukaschenko hat kein Interesse an schneller Stationierung

Die Bunker aus der Sowjetzeit in Belarus seien 30 Jahre später unbrauchbar oder zerstört, heißt es. Zuletzt bremste auch der belarussische UN-Botschafter Valentin Rybakov die Erwartung: In New York erklärte er auf Vorwürfe, Belarus verstoße mit der Atomwaffen-Stationierung gegen das Memorandum von 1994: „In praktischer Hinsicht wurde in diesem Zusammenhang nichts unternommen“.

Eigentlich kann Lukaschenko an einer schnellen Stationierung auch wenig Interesse haben. Seine Forderung nach eigener Befehlsgewalt über die russischen Atombomben in seinem Land hat er offensichtlich nicht durchsetzen können. „Das sind unsere Waffen, die unsere Souveränität und Unabhängigkeit ermöglichen werden“, hatte Lukaschenko noch Anfang April zu den Plänen erklärt.

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko.
Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko. © AFP | ILYA PITALEV

Der Minsker Diktator weiß, dass eine große Mehrheit seiner Bürger die Stationierung russischer Atomwaffen ablehnt. Doch bei der Vertragsunterzeichnung sagte Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu jetzt, die Atomwaffen würden nicht an Belarus übergeben. Auf diese Weise werden nach russischer Lesart auch die internationalen Verträge zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen nicht verletzt. „Die Kontrolle darüber und die Entscheidung über einen Einsatz verbleiben bei der russischen Seite“, betonte Schoigu.

Experten sehen Versuch Putins, seinen Einfluss in Belarus auszubauen

Sein belarussischer Kollege Viktor Chrenin verteidigte die Vereinbarung dennoch mit der Behauptung, Minsk sei an einer Vertiefung der Partnerschaft mit Russland interessiert, weil der Westen beispiellosen Druck auf die nationale Sicherheit von Belarus und Russland ausübe. Westliche Experten sehen die Stationierung der Waffen als Versuch Putins, seinen Einfluss im Nachbarland weiter auszubauen. Ein entsprechender Geheimplan des Kreml zur schleichenden Übernahme war zu Jahresbeginn durchgesickert.

Shoigu habe nicht umsonst angekündigt, zusätzliche Militärkontingente nach Belarus zu entsenden, heißt es in einer ersten Analyse, die US-Militärexperten des Washingtoner Instituts für Kriegsforschung nach der Vertragsunterzeichnung vorgelegt haben. „Die Stationierung taktischer Atomwaffen in Belarus erfordert sowohl eine umfangreiche militärische Infrastruktur als auch die russische Führung und Kontrolle über Teile der belarussischen Streitkräfte“, so die Analyse.

Wahrscheinlich wolle der Kreml auf diese Weise versuchen, die belarussischen Sicherheitsstrukturen weiter denen Russlands unterzuordnen. Die Verlegung bedeute indes keine wachsende Gefahr im Konflikt um die Ukraine. Die Militärexperten halten es weiter für extrem unwahrscheinlich, dass Putin Atomwaffen in der Ukraine oder anderswo einsetzt. Schließlich könne die Atommacht Russland schon jetzt mit seinen Nuklearbomben Ziele überall auf der Erde erreichen. Auch die Bundesregierung sprach in einer Reaktion von einem „weiteren durchsichtigen Versuch der nuklearen Einschüchterung durch Russland“.

Entsprechend zurückhaltend reagiert die Nato. Putins Atom-Rhetorik gilt im Bündnis zwar als gefährlich, doch sieht die Allianz keine Änderung der Bedrohungslage, die eine Antwort der Nato erfordere. „Der größte Fehler wäre, jetzt als Antwort amerikanische Atombomben nach Polen zu verlegen,“ sagt ein Nato-Diplomat. Im Brüsseler Nato-Hauptquartier heißt die Devise: Nur nicht von Putin provozieren lassen.

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