Braunschweig. Das Weihnachtsstück am Staatstheater geht rasant wie ein TikTok-Videostream über die Bühne. Warum das toll und fragwürdig zugleich ist.

Wow, was für ein Tempo! Was für eine knallbunte Bilderwelt, was für eine Energie und Spielfreude in diesem kompakten, aber wandlungsfähigen Ensemble. Gerade mal sieben Darstellerinnen und Darsteller sind es, die in Jörg Wesemüllers Bühnenfassung von Erich Kästners Kinderbuchklassiker „Das doppelte Lottchen“ mit fliegenden Kostümwechseln gleich 17 Rollen verkörpern, schon rein körpersprachlich fulminant. Wesemüller, Leiter des Jungen Staatstheaters Braunschweig, setzt in seinem Weihnachts-Familienstück auf Rasanz, auf eine pralle Comic-Ästhetik, auf Pop und Power. Das Publikum zwischen 4 und 84 Jahren jubelt nach der Premiere am Sonntag im ausverkauften Großen Haus. Aber es wirkt auch ein bisschen erschlagen. Beides hat Gründe.

Kästners Roman von 1949 ist schon ziemlich flott erzählt. Wesemüller verdoppelt die Drehzahl. Mindestens. Im Ferienlager in Seebühl am Bühlsee toben quietschfarben gekleidete Kinder und Erzieher munter durcheinander und geben zu treibenden Elektro-Pop-Songs (Musik: Jörg Wockenfuß) gleich den Empowerment-Grundton der Inszenierung vor: „Zeltlager gefällt / in dieser Welt bist du der Held“.

Quietschbunt und temporeich treten (oben von links) Roman Konieczny, Klaus Meininger, Valentin Fruntke und (u. v. l.) Daniela Goncheva, Larissa Semke und Saskia Taeger sowie Lina Witte in zahlreichen Mehrfachrollen auf.     
Quietschbunt und temporeich treten (oben von links) Roman Konieczny, Klaus Meininger, Valentin Fruntke und (u. v. l.) Daniela Goncheva, Larissa Semke und Saskia Taeger sowie Lina Witte in zahlreichen Mehrfachrollen auf.      © Stage picture | Björn Hickmann

„Das doppelte Lottchen“ im Zeitraffer

Für eine differenzierte Figurenentwicklung ist da keine Zeit. Bei Kästner sind die Heldinnen Luise Palfy und Lotte Körner charakterlich ziemlich verschieden: Luise extrovertiert und selbstbewusst, Lotte in sich gekehrt und diszipliniert. Beide müssen auf ihre Art erstmal mit der Riesenüberraschung zurechtkommen, im Camp ein anderes Mädchen zu treffen, das wie das eigene Spiegelbild aussieht. Um allmählich zu begreifen, dass sie Zwillinge sind, getrennt aufgewachsen, bei geschiedenen, alleinerziehenden Eltern, die ihnen nie voneinander erzählt haben.

In der Braunschweiger Bühnenfassung geschieht das alles im Zeitraffer. Luise und Lotte sind sich praktisch sofort einig, heimlich die Identität zu tauschen und am Ende des Camps zum nichtsahnenden jeweils anderen Elternteil zu wechseln: Luise zur Mutter, einer voll berufstätigen Zeitschriften-Redakteurin in München, Lotte zum Vater, einem erfolgreichen Dirigenten und Komponisten in Wien. Larissa Semke (Luise) und Lina Witte (Lotte) verkörpern die Zwillinge sprühend vor Dynamik und Tatendrang, aber eben deshalb in der Charakterzeichnung auch fast so gleichartig wie sie dank ihres peppigen Partnerlooks auch aussehen (der Größenunterschied zwischen beiden stört da überhaupt nicht).

Voller Dynamik und Gags: Roman Konieczny (von links), Lina Witte und Saskia Taeger im Weihnachtsstück „Das doppelte Lottchen“ am Staatstheater.
Voller Dynamik und Gags: Roman Konieczny (von links), Lina Witte und Saskia Taeger im Weihnachtsstück „Das doppelte Lottchen“ am Staatstheater. © Stage picture | Björn Hickmann

Rasant wie ein TikTok-Videostream

Kostüm- und Bühnenbildnerin Jasna Bosnjak hat überhaupt ganze Arbeit geleistet. Kostüme und Szenenbilder sind echte Hingucker, knallig und pop-artig, stringent durchgestylt. Wie im Flug und praktisch ohne Umbaupausen geht es in dieser Kunstwelt von Seebüll nach Wien und München und dann zwischen diesen beiden Schauplätzen hin- und her. Luise alias Lotte muss bei ihrer vielbeschäftigten Mutter (Daniela Goncheva) in München so tun, als ob sie sie bekochen könnte wie sonst ihre Schwester (was natürlich schief geht). Lotte alias Luise muss in Wien damit zurechtkommen, dass ihr Vati (Roman Konieczny) eigentlich nie Zeit für sie hat, weil er ständig am Dirigieren, Komponieren oder Flirten mit einer - oh Schreck - fremden schicken Frau ist.

Das Ensemble bringt die vielen Täuschungen, Verwechslungen, Finten, kleinen und großen Pannen mit einem Feuerwerk von Regie-Einfällen, Gags, Kostümwechseln, eingestreuten Pop-Songs und ausgefeilten Choreografien über die Bühne. Das ist schon rein körpersprachlich bewundernswert und ungefähr so schnell, unterhaltsam und bilderüberflutend wie ein TikTok-Videostream. In knapp anderthalb Stunden kommt keine Minute Langeweile auf. Allerdings gibt es auch so gut wie keine Ruhephasen, Zeit für Verinnerlichung, Poesie, Nachdenklichkeit. Das „Familienstück zur Weihnachtszeit“ (Staatstheater) kommt so weihnachtlich daher wie ein vergnügter Nachmittag an der Playstation. Und die vielen typisierten Figuren haben psychologisch kaum mehr Tiefgang als eine Videospielfigur, auch die Eltern, insbesondere die Mutter nicht - was nicht an Daniela Gancheva, sondern am Stil der Inszenierung liegt.

Happy-Patchwork-End im Staatstheater

Bei Kästner wird das Auseinandergerissensein der Zwillinge durch die Restaurierung des klassischen Familienmodells gelöst. Die Freundin des Vaters wird ausgebootet, die Eltern versöhnen sich, beide nehmen ihre berufliche Selbstverwirklichung ein Stück weit zugunsten der Kinder zurück, insbesondere die Mutter. Die Kernfamilie ist wieder intakt. Das ist dem Regieteam um Wesemüller zu gestrig. Die neue Vater-Freundin hat ja auch nichts Böses getan, Frauen haben jedes Recht, nicht nur Mütter sein zu wollen, und sowie soll jede und jeder ausleben, was in ihm steckt, Kinder wie Eltern. Auf der Bühne funktioniert das wunderbar, da werden alle Konflikte umstandslos in einer finalen fröhlichen Popsong-Choreografie aller Protagonisten aufgehoben. Totales Happy-Patchwork-End - ganz am Schluss ist dieses „Doppelte Lottchen“ zwar kein Weihnachts-, aber doch ein modernes Märchen.