Braunschweig. Kästners Klassiker ist das Weihnachtsstück des Staatstheaters. Zwillings-Forscherin Prof. Meike Watzlawik über den Stand der Forschung.

Ist es möglich, dass eineiige Zwillinge ganz unterschiedliche Charaktereigenschaften entwickeln, wenn sie getrennt voneinander aufwachsen - so wie die quirlige, selbstbewusste Luise und die stille, disziplinierte Lotte in Erich Kästners „Doppeltem Lottchen“? Aber ja, meint Dr. Meike Watzlawik. Die gebürtige Salzgitteranerin studierte Psychologie an der TU Braunschweig und lehrt und forscht nun als Professorin für Entwicklung, Bildung und Kultur an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Berlin. Zwillingsstudien sind einer ihrer Schwerpunkte.

Die Entwicklung von Menschen werde immer durch eine Mischung aus genetischen Grundlagen und der Prägung durch das soziale Umfeld bestimmt, stellt die 48-Jährige klar. „Bereits während der Schwangerschaft können sich die Bedingungen unterscheiden: Der eine Zwilling hat mehr Platz im Bauch als der andere.“ Zum sozialen Umfeld gehörten zudem die Eltern, die ihre Kinder nicht immer gleich behandeln. Ein unterschiedliches Maß an Zuwendung, Ansprache oder Sanktionen, so subtil und unterschwellig es auch sei, führe zu unterschiedlichen Entwicklungen und Verhaltensformen bei Kindern.

Eineiige Zwillinge, die getrennt aufwachsen, sind einander oft ähnlicher

Interessanterweise seien sich eineiige Zwillinge, die in verschiedenen Haushalten groß werden, teils sogar ähnlicher als zusammen erzogene Zwillingspaare, sagt Meike Watzlawik. . „Das hat mit dem fehlenden Abgrenzungsdruck zu tun.“ Alle Kinder wünschten sich, unverwechselbar zu sein und auch so gesehen zu werden. Eineiige Zwillinge im gleichen Haushalt müssten viel aktiver nach Nischen suchen - und oft seien die bereits durch das Geschwister besetzt.

So erklärten Zwillinge in Studien beispielsweise, sich gegen ihre eigentliche Neigung doch für eine andere Lieblingssportart entschieden zu haben als der Zwillingsbruder, um sich abzugrenzen, berichtet Watzlawik. Das erkläre zum Teil auch die verblüffenden Beobachtungen der berühmten Minnesota-Twin-Studie aus den frühen 90er Jahren. Der amerikanische Psychologe Thomas Bouchard hatte festgestellt, dass früh getrennte eineiige Zwillinge als Erwachsene ganz ähnliche Verhaltensweisen und Marotten aufwiesen, obwohl sie in unterschiedlichen Verhältnissen groß geworden waren. „Zum Teil sind Übereinstimmungen, etwa Ehepartnerinnen mit dem gleichen Vornamen, aber auch auf den Zeitgeschmack zurückzuführen“, sagt Professorin Watzlawik.

Warum ein Zwilling aus genetischer Veranlagung erkrankt, das Geschwisterkind aber nicht

Spannend seien Befunde, die das Wechselspiel von Erbe und Umwelt verdeutlichen. Eine spanische Forschungsgruppe konnte zum Beispiel zeigen, dass sich die Genaktivität bei eineiigen Zwillingen mit steigendem Alter immer mehr unterscheidet. „Diese Unterschiede waren umso ausgeprägter, desto weniger Zeit die Zwillinge miteinander verbrachten, also desto mehr unterschiedliche Erfahrungen sie sammelten“, sagt Meike Watzlawik. „So erklärt sich auch, dass genetisch mitbestimmte Krankheiten bei einem Zwilling auftreten, bei dem anderen aber nicht.“

Wenig hält Prof. Watzlawik von der Haltung mancher Kindertagesstätten, bei eineiigen Zwillingen auf eine Trennung der Geschwister zu bestehen, aus Sorge, sie könnten sich ansonsten nicht individuell entwickeln oder gar gegenseitig behindern. „Zwillinge müssen sich die Aufmerksamkeit der Eltern teilen. Das kompensieren sie häufig, indem sie sich einander zuwenden“, sagt die Wissenschaftlerin. Diese starke Bezogenheit nehme mit der Zeit aber ab. Zwillinge wollten sich genauso voneinander abgrenzen wie alle anderen Kinder auch. Allerdings könne das Zwillingsdasein gegenüber Fremden schon wieder ein spannendes Differenzierungsmerkmal sein.

Zwillinge: Das sagt die Statistik

Statistisch kämen bei 1000 Geburten 17 bis 18 Zwillingspaare und Mehrlinge zur Welt. Tendenziell nähmen die Zwillingsgeburten in entwickelten Ländern zu. „Je älter Mütter werden, desto häufiger kommt es zu einem doppelten Eisprung“, sagt Prof. Watzlawik. „Das hat evolutionsbiologische Gründe, der Körper will gewissermaßen die Chance erhöhen, dass es noch zu einer Befruchtung kommt.“ Bei künstlichen Befruchtungen liege die Zwillingsquote bei 25 Prozent. Die Zahl der eineiigen Zwillingsgeburten aber bleibe gleich: bei 3 bis 7 auf 10.000.