Braunschweig. Im sechsten Monat erkannten Ärzte bei Nicole Reinecke-Wegners Baby einen lebensbedrohlichen Tumor. Warum sie sich für ihr Kind entschied.

Die Entscheidung, vor der Nicole Reinecke-Wegner im Frühjahr 2022 stand, gehört wohl zu den schwierigsten, vor denen Menschen stehen können. Noch im Mutterleib erhielt ihre Tochter eine verheerende Diagnose. Ein rasch wachsender Keimzelltumor befand sich am Hals des Babys und drohte, ihm die lebenswichtigen Versorgungskanäle abzudrücken.

„Eine Zeit lang waren wie in einer Ohnmacht erstarrt“, sagt Reinecke-Wegner heute. Die 38-jährige Braunschweigerin hat viel durchgemacht über das vergangene Jahr, musste Rückschläge verkraften und Unsicherheit ertragen: Doch die Geschichte, die sie erzählen will und die wir hier aus ihrer Sicht wiedergeben, ist eine von Glück und Hoffnung. Ihre Tochter hat überlebt, entgegen vieler Prognosen.

Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: Nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt

Die Dankbarkeit über dieses Glück ist es, das Reinecke-Wegner zur Zeitung treibt. Sie möchte allen Involvierten für ihren Einsatz danken, aber auch anderen Betroffenen Mut machen. Und zeigen, dass sie und Luisa es geschafft haben – dass es Hoffnung geben kann.

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In Deutschland ist der Schwangerschaftsabbruch nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt; vor allem in der späten Schwangerschaft. Schwere Erkrankungen des Kindes gehören dazu. Für die Familie Reinecke war das nie eine Option: Mutter und Vater wollten kämpfen, um ihrem Kind eine Chance zu geben. Kein leichter Weg, doch einer, für den die Familie mit einem kleinen Wunder belohnt wurde – Luisa.

Das Glück schien perfekt: Dann kam die schockierende Diagnose

„Eigentlich hatten wir gerade eine richtige Glückssträhne“, beschreibt Reinecke-Wegner. 2021 hatten sie und ihr Mann gerade ein Haus gekauft, in das sie mit ihrer ersten Tochter Marie, damals 8 Jahre alt, einziehen wollten. Dann wurde Reinecke-Wegner schwanger, das Glück schien perfekt. „Alles schien perfekt zu laufen und sich zu fügen“, sagt die Mutter.

Doch am 28. Februar 2022, kurz nach der Hälfte der Schwangerschaft am Anfang des sechsten Monats, trübte sich das Glück ein. „Mein Arzt entdeckte beim Ultraschall eine kleinen Beule am Hals unseres Babys“, erinnert sich Reinecke-Wegner, „der schlimmste Tag in meinem Leben. Ein Schock.“

Bonner Uniklinik klärte die Familie über die Möglichkeiten auf

Eine Woche später wurde in einem Krankenhaus in der Region die Diagnose gestellt. Ein fetales Halsteratom – ein schnell wachsender Tumor im Halsbereich des Kindes – war im Ultraschall zu sehen. „Da ist für uns eine Welt zusammengebrochen“, sagt Reinecke-Wegner. Es sollte sich herausstellen, dass das Teratom einen Zentimeter pro Woche wuchs; aus der kleinen Beule auf dem Ultraschall sollte eine 14 Zentimeter große Wucherung werden.

Doch von solcher Klarheit waren sowohl ärztliches Team als auch Familie zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt. Und die Unsicherheit sollte Nicole Reinecke-Wegner und ihren Mann Lars noch eine ganze Weile begleiten. Das Krankenhaus verwies sie an die Bonner Uniklinik, in der relativ häufig Fälle von fetalen Halsteratomen behandelt werden. „Hier wurden wir zunächst einmal aufgeklärt, über das Teratom, über die Aussichten, über unsere Möglichkeiten“, sagt Reinecke-Wegner.

Von medizinischer Seite wurde der Familie die Möglichkeit zum Fetozid genannt

Manchmal hat sie über die Zeit der Schwangerschaft hinweg im Umgang mit medizinischem Personal ein bisschen die Empathie vermisst. Was für die Medizinerinnen und Mediziner tägliche Arbeit und Forschungsgebiet ist, bedeutete für die Familie die ganze Welt. Professionelle Distanz und persönliche, tiefe Betroffenheit: Diese Diskrepanz sorgte zuweilen für Tränen, Frustration, Ärger und Verzweiflung. Nach der ersten Aufklärung in Bonn fuhr die Familie viereinhalb Stunden im Auto nach Hause. „Wir haben die ganze Fahrt über nur geweint“, sagt Reinecke-Wegner.

Nicole Reinecke-Wegner mit ihrer Tochter Luisa.
Nicole Reinecke-Wegner mit ihrer Tochter Luisa. © Stilecht Photography | Nicole Reinecke-Wegner

Das Problem: So vieles lag noch im Ungefähren. „Wir wussten nicht, wie der Tumor beschaffen war, wir wussten nicht, ob er eingekapselt war, wir wussten nicht, ob Luisa nach der Geburt lebensfähig sein würde“, sagt Reinecke-Wegner. Die Option „Fetozid“ wurde genannt, der späte Abbruch der Schwangerschaft.

Ethikkommission stimmte dem späten Schwangerschaftsabbruch zu

Es folgten zahlreiche weitere Untersuchungen, Gespräche mit Spezialisten, Anrufe. Noch eine weitere Meinung hier, noch eine zusätzliche Einschätzung da. „Ihr Kind wird kein glückliches Leben führen können“, „Ihr Kind wird keine Chance haben“, „Sie haben ein sehr, sehr krankes Kind“, hörte die Familie da, und sah doch bei jeder Untersuchung, wie ihre Tochter wuchs, größer und stärker wurde. Mit jedem Termin schwand ein Stück Hoffnung.

„Wir haben uns dann auf ärztliche Empfehlung hin von einer Ethikkommission beraten lassen“, erzählt Reinecke-Wegner. Elf Zentimeter war zu diesem Zeitpunkt der Tumor ihrer Tochter, und quetschte schon die Atemwege ein. Ein Team aus ärztlichem und seelsorgerischem Personal kümmerte sich um die Familie. „Sie haben gesagt, sie würden dem Fetozid zustimmen“, erinnern sich die Eltern.

Der Tumor verengte die Atemwege des Kindes

Während sie das sagten, sah sie ihr Kind wieder im Ultraschall, sagt die Mutter. Ihre Hände, ihre Nase. „Ich habe gefragt, wie das ablaufen würde. Und sie haben gesagt, sie würden ihr mit einer langen Nadel ins Herz stechen. Da konnte ich gerade ihr Herz im Ultraschall schlagen sehen. Da war es für mich vorbei. Da war für mich klar: Nein. Niemals. Ich kämpfe weiter für mein Baby.“

Das ärztliche Team der Uniklinik in Bonn klärte die Familie umfassend auf. „Der Tumor war wie ein Schal an der Vorderseite des Halses, der von Ohr zu Ohr unterhalb des Kinns verlief. Er hat die Luftröhre verengt“, sagt Reinecke-Wegner. Wie ein Strohhalm, den man platt drückt. Nach einer regulären Geburt hätte Luisa nicht atmen können.

Die Mutter befasste sich auch mit der Möglichkeit einer stillen Geburt

Die einzige Chance, die Reinecke-Wegners Tochter hatte, lag in dem sogenannten EXIT-Verfahren. Dabei wird nach einem Kaiserschnitt erst mal nur der Kopf des Babys aus dem Bauch der Mutter gebracht. So wird das Kind intubiert, das heißt, ein Schlauch für die Beatmung wird am Tumor vorbei in die Luftröhre geschoben.

Dieser spezielle Eingriff wird nur in spezialisierten Kliniken durchgeführt. Reinecke-Wegner rief auch in einer anderen Klinik an, die nicht so weit weg von Braunschweig lag wie die Bonner Uniklinik. „Dort haben sie mir nach Einsicht der Unterlagen gesagt, dass sie meine Tochter eher gehen lassen würden“, sagt sie. Jedes Mal, wenn sie so etwas hörte, war das wie ein Peitschenhieb. „Ich befasste mich mit dem Thema der stillen Geburt. Es brach mir jedes Mal mein Herz, daran zu denken, vielleicht mein Kind beerdigen zu müssen.“

Die Geburt begann acht Wochen vor dem errechneten Termin

Doch die Familie wollte ihr Baby. In der Uniklinik in Bonn wendete sich für die Reineckes dann das Blatt. „Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen“, sagte der dortige Leiter der Neonatologie und Pädiatrischen Intensivmedizin, Prof. Dr. Andreas Müller, erinnert sich Reinecke-Wegner. Anders als viele andere Ärzte sah er eine Chance für Luisa. Plötzlich trat wieder Licht ins Leben der Familie: Müller gab ihnen neue Hoffnung. Etwas, wofür Reinecke-Wegner und ihr Mann ihm bis heute dankbar sind.

So lange wie möglich sollte Luisa im Bauch ihrer Mutter bleiben. Doch dann begann die Geburt schon acht Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Und es wurde schnell dramatisch: Weil die Fruchtblase im oberen Bereich gerissen war, trat Fruchtwasser in den Bauch ein. Und dann setzten auch noch leichte Wehen ein.

Mit dem Hubschrauber wurde die Mutter in den Wehen nach Bonn geflogen

„Mein Frauenarzt schickte mich gleich ins Krankenhaus. Und da hat die Ärztin wirklich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. In Braunschweig gab es ja nicht die Möglichkeit für das EXIT-Verfahren, hier wäre Luisa auf jeden Fall gestorben. Schließlich ist ein Helikopter extra aus Halle gekommen, um mich nach Bonn zu fliegen. Der Arzt hat mit später gesagt, als er gehört hat, es geht um ein Baby, hat er keine Sekunde gezögert.“ Wieder scheint Dankbarkeit aus Nicole Reinecke-Wegners Augen, als sie sich an die dramatischen Stunden erinnern.

90 Minuten Flug mit dem Hubschrauber der Luftrettung später kam Reinecke-Wegner in Bonn an. „Sofort als ich in den Heli geladen wurde, hatte ich ein Gefühl der Sicherheit. Ich wusste zwar, dass die Situation dramatisch war, aber ich wusste auch, ich bin bei Leuten, die wissen, was sie tun. Und ich wusste, in Bonn erwartet man mich.“

Nach einer dreistündigen Operation war Luisa geboren

Vor der eigentlichen Operation fühlte sie sich wie im Überlebensmodus, mutig und stark – und empfand gleichzeitig eine unermessliche Angst. Gefahr bestand nicht nur für das Kind, sondern auch für die Mutter. Drei Stunden dauerte der Eingriff, zehn Minuten brauchte das Ärzteteam, um die kleine Luisa im Bauch ihrer Mutter zu intubieren. Erst danach wurde sie geboren, am 13. Mai 2022, und abgenabelt. „Sie hat’s geschafft“, seien die erste Worte, die sie nach ihrer Vollnarkose gehört habe, erzählt Nicole Reinecke-Wegner.

Das Ultraschallbild zeigt Luisa im Bauch ihrer Mutter Nicole Reinecke-Wegner. Deutlich zu sehen ist das fetale Halsteratom, der große Tumor, der am Hals des Babys sitzt.
Das Ultraschallbild zeigt Luisa im Bauch ihrer Mutter Nicole Reinecke-Wegner. Deutlich zu sehen ist das fetale Halsteratom, der große Tumor, der am Hals des Babys sitzt. © Privat

Bei einem Geburtsgewicht von 2000 Gramm entfielen allein 380 Gramm auf den Tumor. Doch als die Mutter ihre Tochter sah, konnte sie nur eines sehen: „Sie hatte so ein süßes Gesichtchen“, sagt Nicole Reinecke-Wegner. Das große Glück der Familie: Der Tumor war eingekapselt, und hatte so nicht in andere Bereiche streuen können, zum Beispiel ins Hirn.

Sieben Versuche, die Atemhilfe zu entfernen, schlugen fehl

Diese Gewissheit erlangte das Team aber erst bei der operativen Entfernung des Tumors selbst. Am 19. Mai, sechs Tage nach ihrer Geburt, wurde Luisa für mehr als fünf Stunden operiert.

Es folgten weitere Untersuchungen, Behandlungen. Luisa war immer noch intubiert, es war nicht klar, ob sie ohne Hilfe würde atmen können. Sieben Versuche, die Atemhilfe zu entfernen, schlugen fehl. „Sie rang nach Luft, wurde ganz grau, musste wieder intubiert werden“, sagt Reinecke-Wegner. Zwei mal wurde es sehr knapp. „Ich dachte, mein Kind stirbt jetzt“, sagt ihre Mutter.

Nach einem Luftröhrenschnitt konnte die kleine Luisa erstmals nach Hause

Nach langem Bangen entschied sich die Familie für einen Luftröhrenschnitt. Der ermöglicht Luisa das Atmen und eröffnete ihr auch erstmals, die Welt wirklich zu erleben – denn zuvor war das Baby wegen des Schlauches im Hals ununterbrochen sediert gewesen. Bis heute lebt Luisa mit der „feuchten Nase“. „Sie trägt diesen kleinen Luftfilter am Hals, durch den sie atmen kann“, sagt ihre Mutter. Am 5. September, vier Monate nach ihrer Geburt, durfte das Kind nach Hause.

Heute geht es Luisa den Umständen entsprechend gut. Sie braucht ständige Überwachung – sowohl durch technische Unterstützung als auch durch die Menschen in ihrem Umfeld. Ihre Mutter ist fast durchgehend bei ihr. Ein Pflegedienst hilft der Familie im Umgang mit der neuen Situation und entlastet, wo es geht. „Wir versuchen, den Alltag wieder normal zu gestalten“, sagt Reinecke-Wegner.

Mit drei bis vier Jahren soll die Luftröhre rehabilitiert werden

Ein paar Einschränkungen hat Luisa schon im Leben: Mit dem Essen und Trinken klappt es noch nicht so, eine Magensonde hilft bei der Ernährung. Sie braucht ständige Überwachung, ein kleiner Monitor gibt Auskunft über Werte wie die Sauerstoffsättigung im Blut. Regelmäßig wechseln ihre Eltern die „feuchte Nase“ aus.

Der Plan sei nun, wenn Luisa drei bis vier Jahre alt ist, die Luftröhre zu rehabilitieren. Das heißt, dass die Luftröhre ihre eigentliche Aufgabe aufnehmen können soll, und der Luftröhrenschnitt wieder verschlossen werden kann. Bis dahin wird es dauern, und es sind noch viele Termine beim Spezialisten nötig. „Aber dadurch hätte sie viel Lebensqualität gewonnen“, sagt ihre Mutter. Und dann? „Wird ihr Leben sein wie das eines jeden anderen Kindes auch“, sagt Reinecke-Wegner.

Bis heute arbeitet die Familie ihr Trauma auf

Wobei: Was kann schon normal sein bei so einem Einstieg ins Leben? Psychologische Unterstützung erhielt Nicole Reinecke-Wegner schon früh. Auch jetzt noch arbeitet die Familie ihr Trauma auf. Mit dem fordernden Job einer Vollzeit-Mutter eines so fragilen Kindes ist der regelmäßige Therapie-Besuch manchmal eine Herausforderung. Auch im sozialen Umfeld ist es manchmal schwierig, so sehr sich Familie und Freunde auch um die Reineckes bemühen. „Für alle anderen ist die Welt weitergegangen. Für mich ist sie stehen geblieben. Es ist schwer, sich da einzusortieren“, sagt Nicole Reinecke-Wegner.

Familie Reinecke mit Mama Nicole, Papa Lars und den Töchtern Marie und Luisa.
Familie Reinecke mit Mama Nicole, Papa Lars und den Töchtern Marie und Luisa. © Privat | LISA KLAY

Pflegende Eltern zu sein, sei nicht immer leicht, sagt Reinecke-Wegner über sich und ihren Mann. In ihrem Job gibt es keine Pause. Ununterbrochen stehen beide unter Strom. „Man hat eine ständige Bereitschaft zum Notfall.“

Was der Familie half: Hoffnung und der Glaube an ihr Kind

Aber gleichzeitig: „Wir lieben das Leben mit Luisa – sie ist so ein fröhliches Mädchen und macht unsere Familie komplett.“ Ihre Familie trage ein solch positives Gefühl von Dankbarkeit, Glück und überwältigender Freude an dem neuen Leben, sagt Reinecke-Wegner; und diese positive Energie strahlt die Mutter mit ganzer Kraft aus. Sie ist es, die über die schweren Phasen hinweg hilft. „Wir geben uns als Familie zu viert die Kraft, die wir brauchen“, sagt sie. „Für mich sind die Gespräche mit meinem Mann am heilsamsten.“

Was Nicole Reinecke-Wegner über diese ganze Zeit auch geholfen hat: Ihr Glaube daran, dass alles gut wird, eine innere Stimme, eine Intuition. „Ich habe während der Schwangerschaft überall Zeichen gesehen“, sagt sie. Das habe ihr Hoffnung gegeben und sei ein Anker geworden. Auch der Kontakt zu einer anderen Mutter, deren Tochter das fetale Halsteratom ebenfalls überlebt hat, habe sie aufgebaut. „Deshalb will ich diese Rolle gerne auch für andere übernehmen und etwas weitergeben“, sagt sie.