Berlin. Eine junge Frau berichtet nach der Corona-Impfung von Symptomen, die denen von Post Covid ähneln – was folgt, ist ein Ärztemarathon.

Im Mai 2021 ließ sich Felicia Binger, wie viele andere Menschen, gegen das Coronavirus impfen. Zu der Zeit befand sich Deutschland in der dritten Welle der Pandemie. Für die 29-Jährige, deren Karriere als Schauspielerin gerade erst Fahrt aufnahm, war klar, dass sie sich immunisieren lassen wollte. „Zum einen wurde bei Castings immer öfter nach dem Impfstatus gefragt und zum anderen hatte mein Stiefvater Lungenkrebs, weshalb ich ihn natürlich schützen wollte“, erzählt Felicia heute.

Bereits direkt nach der Impfung fühlte sich die 29-Jährige nicht gut, dachte sich allerdings nichts weiter dabei. Zwei Tage später war ihre Haut plötzlich von einem juckenden Ausschlag übersäht: Nesselsucht. Ihre Hautärztin fragte Felicia, ob sie in den Tagen zuvor etwas Ungewöhnliches gemacht habe. Da fiel ihr die Impfung ein. „Als ich das erwähnt habe, ist mir die Ärztin direkt ins Wort gefallen und hat mir gesagt, dass es daran nicht liegen kann“, erzählt Felicia.

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Nach der Nesselsucht kamen weitere Symptome dazu: Erst Entzündungen im ganzen Körper, Zuckungen, brennende Schmerzen in den Beinen, dann Erschöpfung, eine Sehstörung, kardiologische Probleme. Die Liste ist mittlerweile lang. Für Felicia folgte eine Ärztemarathon durch halb Deutschland – aber niemand nahm sie wirklich ernst.

Post-Vac: Großer Andrang bei Spezial-Ambulanz

192 Millionen Impfdosen wurden mittlerweile in Deutschland verabreicht, 63,2 Millionen Menschen damit immunisiert. Bei den allermeisten von ihnen hat die Impfung das Risiko für schwere Verläufe und Long-Covid gesenkt. In sehr seltenen Fällen, wie bei Felicia Binger, gingen die Probleme mit der Impfung erst los. Wenn nach der Impfung post-covid-ähnliche Symptome auftreten, sprechen Expertinnen und Experten mittlerweile immer öfter vom Post-Vac-Syndrom.

Die Schauspielerin Felicia Binger leidet seit ihrer Corona-Impfung an post-covid-ähnlichen Symptomen wie dem chronischen Fatigue-Syndrom.
Die Schauspielerin Felicia Binger leidet seit ihrer Corona-Impfung an post-covid-ähnlichen Symptomen wie dem chronischen Fatigue-Syndrom. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Eine einheitliche Definition gibt es dafür bisher nicht. Einer der wenigen, die zu dem Thema forschen, ist Bernhard Schieffer, Direktor des Universitätsklinikums Marburg. „Wir betrachten das Post-Vac-Syndrom – weil es eine so große Übereinstimmung gibt – als Post-Covid nach einer Impfung“, erklärt Schieffer. Während Long Covid Symptome beschreibt, die bis zu vier Wochen nach der Infektion auftreten, bezieht sich Post Covid auf solche, die auch 12 Wochen danach noch vorhanden sind. Die Klinik hat ihre Post-Covid-Ambulanz mittlerweile um eine Post-Vac-Sprechstunde erweitert. Aktuell sei die Ambulanz bis Sommer 2024 ausgebucht, sagt der Kardiologe. „Und wir haben noch 7000 Patienten auf der Warteliste.“

Paul-Ehrlich-Institut verzeichnet 54.879 Verdachtsfälle auf schwerwiegende Nebenwirkungen

Wie viele Menschen tatsächlich von Post-Vac betroffen sein könnten, ist bisher nicht bekannt. Schieffer geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, nach einer Impfung Post-Covid-Symptome zu entwickeln, bei etwa 0,02 bis 0,03 Prozent liegt. „Wir schätzen aktuell, dass das Post-Vac-Syndrom zwischen 70.000 und 100.000 Menschen betreffen könnte, die mehr oder weniger starke oder schwache Symptome haben“, sagt der Klinikdirektor.

Dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das die Sicherheit von Impfstoffen in Deutschland überwacht, wurden bis Ende Februar dieses Jahres 283.978 Verdachtsfälle nicht schwerwiegender Nebenwirkungen von Covid-19-Impfstoffen und 54.879 Verdachtsfälle schwerwiegender Nebenwirkungen gemeldet. Von dieser Zahl könne allerdings nicht auf die tatsächliche Häufigkeit von Nebenwirkungen geschlossen werden, da es sich eben nur Verdachtsfälle handle, betont das Institut.

Als Nebenwirkungen werden in Deutschland laut Arzneimittelgesetz „schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen auf das Arzneimittel“ angesehen. Schwerwiegende Nebenwirkungen sind solche, „die tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung oder Verlängerung einer stationären Behandlung erforderlich machen, zu bleibender oder schwerwiegender Behinderung, Invalidität, kongenitalen Anomalien oder Geburtsfehlern führen.“ Bislang hätten sich 1336 der gemeldeten Verdachtsfälle auf long-covid-ähnliche Zustände nach der Corona-Impfung bezogen, teilte das PEI auf Anfrage mit.

Lauterbach versprach Forschungsprogramm zu Post-Vac

Dass die Corona-Impfung – genau wie andere Impfungen auch – Nebenwirkungen haben kann, hat mittlerweile auch Karl Lauterbach (SPD) zugegeben. Der Bundesgesundheitsminister, der zu Beginn der Impfkampagne davon gesprochen hatte, dass die Impfung „nebenwirkungsfrei“ sei, legte im März eine Kehrtwende hin: Im ZDF äußerte sich Lauterbach zum ersten Mal ausführlicher zu schweren Impfnebenwirkungen und versprach ein Forschungsprogramm sowie Hilfe für Betroffene.

Dass sich Lauterbach zu dem Thema geäußert hat, sei gut, sagt Felicia Binger. „Aber solange wir keine konkreten Hilfen bekommen, bringt mir das nicht viel.“ Während des Gesprächs sitzt die Schauspielerin in der Wohnung ihrer Schwester in Berlin, wo sie aktuell in einer Behandlung ist. Arbeiten kann sie nicht. Zwar sind einige ihrer Symptome abgeklungen, doch viele sind geblieben – darunter das chronische Fatigue-Syndrom ME/CFS. „Ich stehe immer vor der Entscheidung, wie ich die wenigen Kapazitäten, die ich am Tag habe, nutze“, erzählt Felicia. „Teilweise muss ich mich entscheiden, ob ich dusche oder mir lieber etwas zu essen mache. Beides schaffe ich nicht.“

Ursache für Post-Vac bisher ungeklärt

Laut Schieffer ließen sich die häufigsten Symptome bei Post-Vac in drei Kategorien einteilen: „Der erste Komplex sind neurokognitive Störungen wie Brainfog, der zweite sind kardiologische Probleme, zum Beispiel Herzrasen, Brustschmerzen oder Herzbeutel- und Herzmuskelentzündungen, und der dritte sind Nervenschmerzen und Muskelschwächen.“

Betroffene des Post-Vac-Syndroms leiden auch darunter, dass sie oft nicht ernst genommen werden.
Betroffene des Post-Vac-Syndroms leiden auch darunter, dass sie oft nicht ernst genommen werden. © dpa | Robert Michael

Insbesondere junge Frauen seien von Post-Vac betroffen, sagt Schieffer: „Dreiviertel unserer Patientinnen und Patienten sind weiblich und im gebärfähigen Alter.“ Warum das so ist, untersucht Schieffer. Erste Erkenntnisse sollen in den kommenden Wochen präsentiert werden.

Eine weitere der vielen offenen Fragen beim Thema Post-Vac ist jene nach der Ursache der Symptome – die Forschung dazu beginnt gerade erst. Ein wichtiger Faktor könnte das Spike-Protein sein, das sowohl in der Impfung als auch im Virus selbst enthalten ist. Auch für die Behandlung gibt es bisher noch keine Leitlinien.

Betroffene von Post-Vac häufig Stigmatisierung ausgesetzt

Felicia Binger hat mittlerweile diverse Therapien ausprobiert – einen Großteil davon musste sie aus eigener Tasche bezahlen. Für Menschen, die nach der Impfung an post-covid-ähnlichen Symptomen leiden, gibt es bisher kaum Unterstützung. Grundsätzlich sieht das Infektionsschutzgesetz für Personen, die durch eine Impfung eine Schädigung erlitten haben, Zahlungen durch die Versorgungsämter vor. Nach Recherchen der „Süddeutschen Zeitung“ wurden dafür bis März über 6600 Anträge gestellt – und nur 285 genehmigt.

Die Betroffenen kämpfen jedoch nicht nur für die Anerkennung ihrer Erkrankung, sondern vor allem auch gegen Stigmatisierung. Nicht nur von Ärztinnen und Ärzten, sondern auch im privaten Umfeld sei sie lange nicht ernstgenommen worden, sagt Felicia Binger. Wenn man sage, dass Symptome von der Impfung kämen, werde man schnell in eine Schublade mit Corona-Leugnern und Impfgegnern gesteckt.

„Das ist absurd, weil wir ja solidarisch waren und zur Impfung gegangen sind“, sagt sie. Und auch Schieffer betont: „Ich bin ein ausdrücklicher Impfbefürworter. Die Covid-19-Impfung hat uns geholfen, die Freiheit, die wir jetzt haben, wiederzuerlangen.“ Trotzdem sei es aber wichtig, dass sich die Wissenschaft auch mit dem Post-Vac-Syndrom beschäftigt.