Brüssel. Die EU hat zu viel Impfstoff bestellt, auch Deutschland. Lenken die Hersteller ein? Und warum ermittelt die Staatsanwaltschaft?

Zwei Jahre nach dem Start der Corona-Impfkampagne schlagen immer mehr Regierungen in Europa Alarm: Sie erwarten für kommendes Jahr eine enorme Schwemme an nicht benötigten Impfstoff-Lieferungen, vorrangig mit dem Biontech/Pfizer-Vakzin. Es droht eine Verschwendung von Steuergeldern in Milliardenhöhe – denn viele Millionen Impf-Dosen müssten vernichtet werden. Kann die EU das Desaster noch abwenden?

Allein für Deutschland geht es um insgesamt 160 Millionen Dosen für 2023 und 2024. Die würden nicht mehr benötigt, da bis mindestens Herbst 2023 genug Impfstoff auch gegen neue Virusvarianten gesichert sei, heißt es im Gesundheitsministerium. Bei Kosten pro Dosis von bis zu 20 Euro (für das Präparat von Biontech) geht es nur für Deutschland um rund drei Milliarden Euro.

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Bei einem Treffen der EU-Gesundheitsminister kürzlich in Brüssel forderte der deutsche Staatssekretär Thomas Steffen eine Lösung vor dem nächsten Liefer-Termin im Januar: „Wir brauchen mehr Flexibilität – nicht nur beim Lieferzeitpunkt, sondern auch bei den Liefermengen.“ Das war noch höflich. Vertreter anderer EU-Staaten zeigten sich nach Informationen unserer Redaktion regelrecht empört, ein Problem beklagten alle in der Runde.

In einem Schreiben der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft heißt es, eine Reihe von Mitgliedstaaten dränge auf eine Änderung der Lieferverträge. Aus ihrer Sicht habe die bisherige Inflexibilität der Verträge eine Situation geschaffen, in der öffentliche Gelder für große Mengen an Corona-Impfstoffen eingesetzt würden, die nicht benötigt würden und deshalb vernichtet werden müssten.

EU-Staaten warnen: „Geben Milliarden für Impfstoffe aus, die wir gar nicht brauchen“

Der polnische Gesundheitsminister Adam Niedzielski sagte bei dem Treffen: „Es muss neu verhandelt werden. Es kann nicht beim jetzigen Lieferumfang bleiben. Der Überschuss zeigt die Schwäche der Verträge, die die Kommission verhandelt hat.“ Der slowenische Gesundheitsminister Aleš Šabeder schimpfte: „Unsere Lager sind voll. Es ist nicht akzeptabel, dass wir für Impfstoff zahlen, den wir hinterher vernichten müssen.“ Die Slowakei und Lettland schlugen vor, dass Pfizer statt des Corona-Impfstoffs andere Medikamente liefert. Griechenland forderte: „Wir müssen Impfstoff zurückschicken. Wir dürfen gegenüber den Herstellern keine Schwäche zeigen.“ Italien appellierte an die Kommission: „Unternehmen Sie alles, um die Verträge neu zu verhandeln und die Mengen zu reduzieren.“ Dänemark brachte eine Preissenkung ins Spiel, Frankreich eine Verschiebung bis 2025. Rumänien warnte: „Wir geben Milliarden für Impfstoffe aus, die wir gar nicht brauchen.“ Litauen gab zu Protokoll: „Wir bekommen sechsmal so viel Impfstoff wie wir benötigen.“

Für die Überversorgung gibt es mehrere Gründe. Einerseits hat sich die Europäische Union nach dem Schock zu Beginn der Impfkampagne, als die Vakzine knapp waren, lieber großzügig eindecken wollen. Die EU-Kommission organisierte im Mai vorigen Jahres für 2022 und 2023 insgesamt bis zu 1,8 Milliarden Dosen von Biontech/Pfizer zum Preis von geschätzt 35 Milliarden Euro.

Andererseits ist die Nachfrage nach den Vakzinen viel geringer als angenommen. Die Impfquote von europaweit 73 Prozent (in Deutschland 76 Prozent) ändert sich seit vielen Monaten kaum noch. Das Interesse an Booster-Spritzen nimmt ab. Schon jetzt müssen auch hierzulande immer wieder kleinere Mengen von Impfstoff vernichtet werden, dessen Haltbarkeit abgelaufen ist. Ab 2023 geht es um hunderte Millionen Impfdosen zu viel.

EU-Gesundheitskommissarin Kyriakides plant Krisentreffen mit Herstellern

Die EU-Kommission hat die Beschaffung organisiert, bestellen indes musste jedes Land selbst. Es sind deshalb die EU-Staaten, die auf die Barrikade steigen: Die Hersteller – neben Biontech/Pfizer vor allem Moderna - müssten die Lieferungen sofort stoppen, dann die Verträge neu verhandeln, heißt die Forderung der Mehrheit. Andernfalls komme die gesamte Impfkampagne in Verruf, warnt Tschechiens Gesundheitsminister Vlastimil Válek.

EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides drängt auf eine Änderung von Impfstoff-Verträgen, es soll ein Krisentreffen geben.
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides drängt auf eine Änderung von Impfstoff-Verträgen, es soll ein Krisentreffen geben. © dpa | Olivier Hoslet

Doch bislang haben die Unternehmen nicht eingelenkt. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides plant nun ein Krisengespräch Anfang nächsten Jahres im europäischen Impfstoff-Lenkungsausschuss. Teilnehmen sollen die betroffenen Hersteller und EU-Gesundheitsminister. Ziel sei es, die Versorgung an die Bedürfnisse vor Ort anzupassen, sagte Kyriakides unserer Redaktion: „Die Kommission unterstützt die Forderung der Mitgliedstaaten, Verträge an neue Realitäten anzupassen, und arbeitet aktiv mit den Unternehmen zusammen, um Lösungen für unsere langfristige Partnerschaft gegen Covid-19 zu finden.“ In der Behörde heißt es: „Wir respektieren unsere vertraglichen Verpflichtungen. Aber die Umstände haben sich geändert.“

Die Forderung zielt vor allem auf Biontech/Pfizer. Das Biontech-Präparat macht inzwischen den mit Abstand größten Teil der Impfstoffversorgung in der EU aus. Pfizer hatte sich zwar vor Monaten bereit erklärt, Lieferungen in die EU zeitlich etwas zu strecken und den Impfstoff der ersten Generation durch die neuen, angepassten Varianten zu ersetzen, inzwischen gibt es auch ein zentrales Lager für die EU-Staaten, wie das Unternehmen auf Anfrage betont. Doch weitergehende Zusagen machen Pfizer und Biontech bisher nicht. Milliarden-Gewinne aus dem Impfstoff-Geschäft sind eingeplant. Ein Pfizer-Sprecher in New York sagte unserer Redaktion: „Wir arbeiten weiterhin mit der Europäischen Kommission und den Regierungen zusammen, um Lösungen zu finden und dabei die zwischen den Parteien beim Abschluss des Vertrags vereinbarten Grundprinzipien zu respektieren.“ Nach Bereitschaft, den Vertrag wie gefordert neu zu verhandeln, klingt das nicht.

Corona-Impfstoffschwemme: Darum hat Ursula von der Leyen jetzt ein Problem

Das droht nun auch zum Problem für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen werden. Sie hatte den Mega-Deal über die Biontech/Pfizer-Lieferungen von bis zu 1,8 Milliarden Dosen persönlich eingefädelt. Der Vertrag ist ohnehin schon in der Kritik, denn von der Leyen hatte laut Prüfbericht des Europäischen Rechnungshofs eigenhändig Vorverhandlungen mit Pfizer-Chef Albert Bourla geführt und wesentliche Inhalte vereinbart – in Abweichung vom festgelegten Verfahren, so der Rechnungshof.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen soll den größten Deal zur Impfstoffbeschaffung in Europa über 1,8 Milliarden Dosen persönlich in Vorverhandlungen eingefädelt haben. Jetzt mehren sich die kritischen Fragen zu dem Vertrag.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen soll den größten Deal zur Impfstoffbeschaffung in Europa über 1,8 Milliarden Dosen persönlich in Vorverhandlungen eingefädelt haben. Jetzt mehren sich die kritischen Fragen zu dem Vertrag. © AFP | John Thys

Wegen der befürchteten Impfstoff-Schwemme werden die Zweifel jetzt lauter: „Wir brauchen volle Transparenz der Kommission – was ist beim Vertrag versprochen worden?“, fragte beim Gesundheitsminister-Treffen der Vertreter Belgiens, Teilnehmer anderer Länder unterstützten ihn. Denn alle bisherigen Versuche des Rechnungshofs und eines Sonderausschusses des EU-Parlaments, Licht in die geheimnisvollen Vorverhandlungen zwischen von der Leyen und Bourla zu bringen, verliefen ergebnislos. Die beiden mauern.

In Brüssel setzen nun viele Kritiker auf die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO). Die hatte im Oktober mitgeteilt, dass sie im Zusammenhang mit der Corona-Impfstoffbeschaffung der EU Ermittlungen aufgenommen hat – ohne zu sagen, warum und gegen wen. Dass es um von der Leyens Mega-Deal geht, an dem die EU-Staaten jetzt knabbern, ist eine weit verbreitete Annahme, auch unter EU-Abgeordneten.

Die Staatsanwaltschaft hat diese Vermutung auf Anfragen unserer Redaktion nicht dementiert, bestätigt sie aber auch nicht. Die Ermittlungen stünden unter Geheimhaltung, in Übereinstimmung mit europäischen und nationalen Gesetzen, erklärt eine Sprecherin: „Aus diesem Grund können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Details veröffentlichen“. Die Behörde stellt aber klar: Die Ermittlungen dauern an. Für Europas Politik wird die Corona-Impfstoffbeschaffung nächstes Jahr so oder so ein brisantes Thema.

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