Göttingen. Täglich um 17.45 Uhr startet eine symbolische Aktion des Deutschen Theaters Göttingen.

Seit Mitte vergangener Woche werden Menschen, die in diesen Tagen am frühen Abend in der Göttinger Innenstadt unterwegs sind, plötzlich von lauten Stimmen überrascht, die wie aus einem unbekannten Off kommend über der Stadt zu schweben scheinen. Diese Stimmen stellen ausschließlich Fragen und wer ihnen folgt, findet letztlich den Weg zum Deutschen Theater.

Mit einer sich täglich um 17.45 Uhr wiederholenden, viertelstündigen symbolischen Aktion wollen die Mitarbeiter des Theaters auf die erneute coronabedingte Schließung ihres Hauses und die damit verbundenen Folgen aufmerksam machen. Den gesamten Eingangsbereich des Theaters säumt ein mit Planen bespannter Bretterzaun. Aus drei Bullaugen ähnlichen runden Fenstern an der Stirn der Fassade blicken riesige sich bewegende und ihre Farbe verändernde Augen auf den Vorplatz herunter. Die großen Fenster darunter sind in tiefem Rot ausgeleuchtet, das anliegende, komplett verglaste Bistro ist in grelles weißes Licht und austretende Nebelschwaden getaucht.

„Wie steigt man über einen Zaun, den man im Kopf hat?“ Über Lautsprecher verstärkte Stimmen verschiedener Schauspielerinnen und Schauspieler des Hauses lesen Fragen vor, die teils zusätzlich über ein laufendes Leuchtbanner zu verfolgen sind. Was beginnt jetzt? Warum schweigen die Wälder? Wie(so) sollen wir das erklären? Was ist Mut? Ändert sich eine Frage, wenn du sie öfter hörst? Macht die Natur deshalb so glücklich, weil sie keine eigene Meinung hat? Brauchst du ein Ziel, um unterwegs zu sein?

Die Fragen bleiben unbeantwortet im Raum stehen. Jeder Zuhörende kann seine Antwort suchen, vielleicht auch finden oder sie schlicht als Denkanstoß sehen. Das Theater setze sich durch und finde immer Mittel und Wege, erläutert Erich Sidler, Intendant des Deutschen Theaters, die Aktion. Es gehe darum, erlebbar zu machen, was im Moment passiere. Die Kultur sei für die Fragen zuständig. Offene Fragen setzen Gedanken und Geschichten in Bewegung, Grundsätzlich fehle die Begegnung, der soziale Kontakt, das gemeinsame Erleben, dies seien Grundbedürfnisse.

Den Fragen einen Wert zugestehen

Sidler sieht eine Ausdünnung der Kultur, bei der zuerst diejenigen herunterfallen, die individuelle Erlebnisse schaffen und sich nicht nach dem Markt richten. Tatsache sei, dass die Kultur unter einem enormen Druck stehe, verbunden mit einer existenziellen Bedrohung aller Kulturschaffenden. Mit der Gleichsetzung der Kultur als Freizeitbeschäftigung setze sich zusätzlich etwas ins Unterbewusste und schaffe eine unbewusste Nivellierung. Eine Unterscheidung sei somit hier dringend notwendig.

„Hast du im Liegen eine andere Meinung als im Stehen?“ Jeder solle seine eigenen Antworten finden, das Freisetzen sei etwas Wertvolles. Tenor sei aber, dass sie ihre Aktion nicht erklären, so den Charakter der Fragen erhalten und ihnen einen Wert zugestehen, erläutert Sidler. Fragen zu bespielen sei die erste Absicht gewesen, aber sie beabsichtigen Variationen zu schaffen. Die nächsten Blöcke seien zielgenauer und es würde sich etwas verändern, sodass ein Wiederkommen sich lohne.

Und was kommt am Ende? Über die Lautsprecher sind die Kirchenglocken Göttingens zu hören, deren Klang um 18 Uhr von dem realen Geläut übernommen wird. Für viele Kulturbetriebe ist es aber inzwischen schon kurz vor Zwölf oder sogar später. Warum ist es plötzlich so still? Leiser Applaus von den anwesenden Zuhörenden, aber was kommt danach und wann?