Osterode. Autorin Lore Seichter-Muráth war in der Stadtbibliothek zu Gast.

Lange Zeit war sie dem Vergessen anheim gefallen: die Bildhauerin Camille Claudel. Ihre Werke erhielten erst Jahrzehnte nach ihrem Tod die gebührende Aufmerksamkeit. In einer szenischen Lesung widmete sich Lore Seichter-Muráth, die auf Einladung der Volkshochschule in der Stadtbibliothek zu Gast war, dem Leben der französischen Künstlerin.

Mit „Herbstkind – eine Reise zu Camille Claudel“ aus ihrer Reihe „Starke Frauen“ präsentierte die Autorin jedoch keine Biographie im eigentlichen Sinn. Vielmehr skizzierte sie die Vita der Bildhauerin anhand charakteristischer Episoden.

Immer wieder kehrte ihre Erzählung mit alptraumhaften Szenen zum Ausgangspunkt zurück, der psychiatrischen Anstalt Montdevergues bei Avignon, wo Claudel die letzten dreißig Jahre ihres Daseins fristete und 1943 in einem Massengrab verscharrt wurde.

Gefühlskalte Mutter

Im Jahre 1864 geboren, wächst die Künstlerin in einer gutbürgerlichen Familie in Villeneuve auf. Schon früh zeigt sich ihre Faszination für das Modellieren von Steinen. Während die gefühlskalte Mutter das Gebaren und die Ambitionen ihrer Tochter als unangemessen verabscheut, fördert der Vater Camilles Talent und sorgt dafür, dass sie mit 16 Jahren schließlich an der privaten Akademie Colarossi in Paris als Schülerin der Bildhauerei unterrichtet wird.

1883 wechselt sie an die Schule des schon damals anerkannten Auguste Rodin, wird sein Modell, enge Mitarbeiterin und Beraterin und auch Geliebte. Doch da Rodin weder seinen legeren Lebenswandel noch seine langjährige Lebensgefährtin aufgibt, trennt sich Camille schließlich nach Jahren ständigen Streits 1889 von ihm. Danach beginnt der schleichende Abstieg bis hin zur Verwahrlosung. „Aus Lebensangst wird Verfolgungswahn“, erklärte Seichter-Muráth.

Da die schützende Hand des mittlerweile verstorbenen Vaters fehlt, veranlassen Mutter und Bruder, der Schriftsteller Paul Claudel, ihre Einweisung ins „Irrenhaus“. 1913 wird sie aus ihrem Atelier verschleppt und zunächst in die Anstalt Ville-Évrard bei Paris gebracht. Ein Jahr später erfolgt die Verlegung nach Montdevergues. Und trotz späteren ärztlichen Rates will Madame Claudel die Tochter mit ihren „absonderlichen Ansichten“ nicht wieder aufnehmen.

Schilderungen aus dem Irrenhaus

Immer wieder kehren Seichter-Muráths Schilderungen in das „Irrenhaus“ zurück, wo Camille fortan dahinvegetiert, und machen das Grauen dieses Ortes mit seiner dunklen Tristesse und den Schreien anderer Insassen, mit Hunger und Kälte, fehlender Hygiene sowie dem Sehnen nach menschlicher Gesellschaft und Wärme greifbar. „Traurig, leerer Blick sitzt sie da“, schreibt die Autorin. „Isolationshaft bis zum Ende ihres Lebens.“ Denn auch ein Verbot von Besuch und Briefen haben Mutter und Bruder verfügt.

Dazwischen webt Seichter-Muráth Episoden aus Kindheit und Jugend der Bildhauerin ein, beleuchtet ihren Werdegang aus unterschiedlichen Perspektiven, beschreibt ihre Begeisterung für das künstlerische Schaffen, das überwältigende Gefühl der Freiheit als Akademieschülerin und ihren ungeduldigen Ehrgeiz, lässt aber auch ihren mitunter aufblitzenden Dünkel und ihr hitziges Temperament nicht unerwähnt. „Ihre Kritik hatte das Zeug zur Vernichtung.“

Durch ihre poetische Sprache und einprägsamen Bilder sowie den prononcierten Vortrag zeichnete die Autorin ein eindringliches Porträt von Camille Claudel und zugleich des damals herrschenden Zeitgeistes. Ihre eingestreuten Lieder und lyrischen Verse, die mal im Stakkato, mal mit Redundanzen oder Lautmalereien die Stimmung des dargestellten Szenarios unterstrichen, verliehen der Lesung eine besondere Atmosphäre und fesselten das intensiv zuhörende Publikum.

Seichter-Muráth sagte aber auch deutlich, worin sie Claudels Scheitern begründet sah: „Fehlende Gleichberechtigung vereitelte, eine künstlerische Berufung auszuleben.“ Frauen, die als Künstlerinnen arbeiteten, seien von der damaligen Gesellschaft als Sonderlinge ausgegrenzt worden. „Camille nutzte ihre Kunst gegen erstarrte Konventionen.“ Damit sei sie eine Wegbereiterin gewesen und habe dafür bitter bezahlt.

Zu ihrer Zeit habe Claudel nur als Schülerin Rodins gegolten. Aufträge, die ihr Geld eingebracht hätten, wurden erst gar nicht erteilt oder wieder zurückgezogen. Erst dreißig Jahre nach ihrem Tod sei erkannt worden, welch geniale und kreative Bildhauerin Claudel war, beklagte die Autorin. „Nun endlich wurde ihr ein herausragender Platz in der Kunst zugestanden.“

Wohl nicht zum letzten Mal zu Gast

Ulrike Schmidt von der VHS Osterode freute sich, dass die Lesereihe „Starke Frauen“ fortgesetzt werden konnte, und dankte der Stadtbibliothek, dass sie sich erneut als Veranstaltungsort zur Verfügung gestellt hatte, sowie der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises Göttingen für die Unterstützung.

Und sie kündigte an, dass Lore Seichter-Muráth wohl nicht zum letzten Mal zu Gast gewesen sei, was von den begeisterten, zumeist weiblichen Zuhörern mit zustimmendem Applaus quittiert wurde.