Osterode. Das Literaturfest Niedersachsen war zu Gast in Osterode. Julia Hansen und Heikko Deutschmann brillieren in der Eulenburg.

Alles passte zusammen: Location, Texte und Musik. Mit der Lesung „Von Menschen und Maschinen“ in der ehemaligen Wollwarenfabrik Greve & Uhl konnten Julia Hansen, Heikko Deutschmann und Stephan Meier mehr als überzeugen. Nach dem schwierigen Start angesichts der außergewöhnlichen Musik war das Publikum am Ende regelrecht begeistert.

Der Erfolg liegt in der Auswahl. Christiane Freudenstein hat die Texte in eine Reihenfolge gebracht, die eine durchdachte Dramaturgie deutlich erkennen lassen. Das Verhältnis Mensch und Maschine wird im Laufe des Abends immer inniger, bis die Grenzen verschwinden. Damit stand am Ende der gemeinsamen Reise eine erschreckende Fantasie.

Das „Poéme symphonique“ von György Ligeti ist ein Einstieg, der für manchen zu spröde ist. In der sogenannten Symphonie für 100 Metronome ticken die Mechaniken in unterschiedlichen Takten miteinander und gegeneinander. Doch in der Gesamtheit wird ein Klangbild daraus, das Konzentration erfordert, um erkannt zu werden. Es ist nicht mehr der Mensch, der die Musik macht. Dies erledigt die Maschine.

Damit war der Einstieg durchaus programmatisch für den Abend. Das Spiel geht langsam zu Ende, das „Poéme symphonique“ franzt aus. Später werden einzelne Metronome noch die Lesepausen hin klicken. Die Ränder der Musik verweben sich so mit der Literatur. Mit der „Brüderschaft von Ingenieur und Dichter“ hat William Wordsworth einst einen programmatischen Text abgeliefert. Entsprechend sachlich ist der Vortrag von Julia Hansen.

Heikko Deutschmann im Maschinenraum.
Heikko Deutschmann im Maschinenraum. © HK | Thomas Kügler

Heikko Deutschmann liefert dann mit Kishons „Auch die Waschmaschine ist nur ein Mensch“ das Kontrastprogramm. Er lässt seine Erfahrung aus mehr als 40 Hörspielen zur Geltung kommen. Er trägt mal laut, mal leise, mal schnell, mal langsam vor und setzt die Pausen an den passenden Stellen. Mit sparsamer Gestik unterstreicht er die entscheidenden Stelle. Das Schmunzeln des Auditoriums wird hörbar. Deutschmann hat das Publikum auf seiner Seite, weil er diesen unsichtbaren Faden zwischen Künstler und Publikum meisterhaft spinnt. Jeder im ausverkauften Maschinenraum der Eulenburg sieht die hüpfende Waschmaschine Jonathan vor dem geistigen Auge.

Auch beim „Automechaniker“ aus „Kein schöner Land“ von Silvio Blatter schafft es Deutschmann, die Zuhörer mitzunehmen. Die Werkstatt, in der Flip arbeitet, wird fast greifbar. Die rasante Probefahrt, die zu einem Todesfall wird, ist eindrucksvoller Teil des Kopfkinos, das Deutschmann an diesem Abend anknipst. Mit Blatters Text ist eine Grenze überschritten, nämlich die zwischen Mensch und Maschine. Automechaniker Flip geht die Symbiose mit den Motoren ein, aber vor allem mit seinem Walkman. An dessen Tropf hängt er und dies führt in die Katastrophe. Wenn es eine Schwäche im Programm gibt, dann liegt sie hier. Der Text von Blatter wurde bereits 1983 veröffentlicht und ist doch der jüngste im Programm. Der Abend bleibt mechanisch und analog. Smartphones, Apps und alle weiteren Geräte zur vermeintlichen Lebensoptimierung kommen nicht vor. Das Publikum darf von Flips Standpunkt der frühen 80er Jahre aus weiter in die Gegenwart denken.

Musikalisch bestimmt Stockhausen den Abend. Stephan Meier serviert vom Klassiker der Avantgarde mit Waage, Skorpion und Jungfrau drei Stück aus dessen „Tierkreis“-Zyklus von 1975. Schlagen, streicheln und zuwedeln. Meier bedient das Glockenspiel und das Vibrafon auf eine Art und Weise, die das Publikum in Trance versetzt. Das Duett mit Spieluhr wird zum Aha-Moment und dank Smartphone-Loop in die Gegenwart verlängert.

Julia Hansen kann auch anders, nämlich recht emotional und mitreißend. Das siebte Kapitel von Emil Zolas „Die Bestie im Mensch“ schildert eine Fahrt mit der Dampflok durch eine tief verschneite Sturmnacht. Hansen macht das Publikum zu Mitfahrern auf dieser Reise. Sie und Jacques Lantier scheinen zum Teil so miteinander zu verschmelzen, wie Zolas Lokführer mit seiner Maschine verschmilzt. Gänsehaut gibt es reichlich, als Julia Hansen den Abschnitt „Der Apparat“ aus Kafkas „Die Strafkolonie“ vorträgt. Da ist die nüchterne Schilderung des Reisenden, die sie kontrastiert mit dem Vortrag des Offiziers. Mit immer sich steigernden Gesten verdeutlicht sie dessen sich selbst euphorisierende Handhabung des Tötungsapparates. Der Sadismus und die Menschenverachtung bekommen so ein Gesicht, das erschrickt. Das düstere Ambiente des Industriedenkmals mit seinen wenigen verbliebenen Apparaten ist der denkbar beste Ort für diesen Vortrag.

Gesteigert wird dies noch durch Stephan Meier und seinen Vortrag der „Rebounds“ von Jannis Xenakis. Die Percussion klingt reichlich nach Landsknechttrommeln und nach drohendem Unheil.

Die Dramaturgie des Abends ist klar. Die Grenze ist überschritten, die Maschine besiegt den Menschen. Damit gibt es doch noch eine Aussage, die in eine zweifelhafte Zukunft weist. Daran ändert auch der Abschluss mit den Texten von Kasack und Offray de La Mattrie nichts. Von der Skepsis zur Begeisterung. Die Lesung „Von Menschen und Maschinen“ war nicht nur eine Reise in eine gemeinsame Fantasie. Sie war auch ein Entwicklungsprozess bei Vortragenden und Zuhörenden. Was will man mehr?