Braunschweig. Die verführerisch-poetische Inszenierung von Guido Wertheimers „Wir werden diese Nacht nicht sterben“ im Staatstheater überzeugt.

Das Schöne an dem Text ist sein Geheimnis. Dass nicht alles so ganz logisch nacherzählbar ist, dass man als Zuschauender nach und nach die Wirklichkeitssetzung versteht, aber immer wieder auch mit dem Ich-Erzähler sich in Träumen, alten Spuren, fremden Perspektiven verliert.

Autor und Regisseur Guido Wertheimer befindet sich bei der Uraufführung seines Tagebuchs „Wir werden diese Nacht nicht sterben“ auf einer sehr persönlichen, wenngleich vielleicht fiktiven Identitätssuche, die nicht nur mit der realen Gegenwart, sondern auch mit der Geschichte von Stadt, Land und Familie korrespondiert. Man könnte das sogar noch stärker als Sinfonie von Stimmen auffassen, die sich mal in den Vordergrund schieben und mal wieder abtauchen.

Road-Movie für Flaneure

Dazu trägt in Florian Barths Raumgestaltung im Aquarium des Staatstheaters auch die Videoüberblendung von Ella Estrella Tischa Raetzer bei. Großstadt-Häuser, Blüten im Park, Schneegegriesel, alte Fotos. Die Atmosphäre bleibt gern etwas verschwommen. Wir sind in den Spielszenen immer ganz nah an den beiden Protagonisten, dann entgleiten sie uns wieder.

Äußerlich ist das Ganze eine Art Road-Movie für Flaneure. Das Ich erkundet Berlin, als Gast-Student aus Argentinien auch auf den Spuren seiner jüdischen Familie, die Berlin in der Nazi-Zeit eben noch rechtzeitig verließ. Er erzählt uns, als läse er aus seinem Tagebuch vor, vom Wechsel der für den Südamerikaner ungewöhnlich stark ausgeprägten Jahreszeiten, von U-Bahnfahrten in die falsche Richtung und Feiern mit Freundinnen und Freunden. Er empfindet die Präsenz von Geistern. Sagen wir: Die Welt wird ihm durchscheinend für Personen und Ereignisse der Vergangenheit. Nicht nur die Geister seiner Ahnen. Er spürt auch wieder die bösen Geister der Nazi-Zeit, die seine Familie vertrieben, den Urgroßvater umgebracht haben: Nichts ist verschwunden, alles ist immer jederzeit da, kann sich neu inkorporieren. „Habt Angst“, ruft ihm der Synagogen-Kantor zu. „Wir werden diese Nacht nicht sterben – aber es kann doch jederzeit was passieren.“ Und gerade die letzten Wochen haben ja gezeigt, wie schnell auch in Deutschland Antisemitismus wieder die Straßen beherrscht.

Zwischen Stolpersteinen und Verliebtsein

Der Ich-Erzähler sucht die Orte seiner Familiengeschichte, auch mittels eines Agenten, der nachher für die Verlegung von Stolpersteinen sorgt. Er findet alte Dokumente und Fotos. Die Großmutter huscht in Gestalt Mariam Avalianis als junges Mädchen, das sie in Berlin war, durch die Szene, eine Fee, die nachher auch sehr schön singt.

Gut gemacht ist zudem, dass die Dialogszenen meist von einer liebevollen Heiterkeit durchdrungen sind. Das Leben hat für den Ich-Erzähler viele Schichten und Facetten. Ivan Marković spielt ihn mit einer schönen Sensibilität den Menschen gegenüber und einer wunderbar sorgfältigen Artikulation, die alles, was er sagt, irgendwie kostbar macht.

Die Arroganz der Akademie

All die anderen Menschen übernimmt Robert Prinzler, höchst wandlungsfähig zwischen pinseligem Akademiepräsidenten und zugewandtem Kantor. Mit schöner Feinheit spielt er den jüdischen Mitstudenten Aron, der sich in den Ich-Erzähler verliebt. Sein Lächeln, seine Aufmerksamkeit zeigt er einfach als ein großes freundliches Angebot an den Jungen, den er liebt.

Ob jenseits aller Pläne einer gemeinsamen Zukunft als Bierbrauer in Indonesien etwas aus ihnen wird, bleibt so geheimnisvoll wie das ganze Stück. Es gibt keinen Kuss, kaum eine Berührung, nur diese starke Nähe, die sich das Ich verschmitzt lächelnd gefallen lässt. Längst hat sich sein Spurengehen ins Archäologische erweitert, spürt er die ganze Evolution in sich walten. Ein ewiges Werden und Vergehen, das hier aber die Momente des Lebensgenusses nicht verschattet.

Durchscheinend für die Ewigkeit

Dass Wertheimer, der mit dem Stück den Jungdramatiker-Preis des Braunschweiger und des Magdeburger Theaters gewann, das Darbieten vor Jury auch ausführlich im Stück zelebriert, mag hier als Pointe durchgehen. Genau solche Selbstreflexionen über den Theater- und Literaturbetrieb oder die Formsuche sind Insider-Geklingel.

Wertheimers Qualitäten liegen in seinem Gefühl für Situation und Geheimnis, für das Durchscheinende, wie es etwa Bernard-Marie Koltès so magisch beherrschte. Schauen wir mal, was kommt. Der Abend jedenfalls nimmt auf unaufdringliche Art gefangen.

Wieder am 2., 9., 10., 13., 21. Dezember, 5., 6., 13. Januar. Karten: (0531) 1234567 und www.konzertkasse.de