Der junge Deutsch-Argentinier Guido Wertheimer ist Autor und Regisseur eines Stücks über seine jüdischen Vorfahren am Staatstheater.

Guido Wertheimer ist ein sanfter Typ. Schmal, Hoodie, offenes Lächeln. Da fällt einem das Adjektiv „verletzlich“ ein. Das ist auch nicht verkehrt. Denn es führt ziemlich direkt ins Thema. Der junge Deutsch-Argentinier hat einen bemerkenswerten Text verfasst, den er am 9. November zum Gedenken an die Pogromnacht im Jahr 1938 im Braunschweiger Rathaus vortrug. Darin formuliert er einen Gedanken, den man erstmal verstehen muss:

„Wir müssen in diesem Land Angst vor dem Schweigen haben. Der Geist des Schweigens ist überall zu spüren. Von Rostock über Halle bis nach Hanau und zurück in die ruinierte Hauptstadt, wo die Eskalation der Gewalt in diesen Tagen zunimmt. Wo die Polizei in Neukölln Zeichen des Schmerzes auslöscht, wo es verboten ist, Kerzen anzuzünden, um die Toten von Palästina zu betrauern. Wo die jüdische Gemeinde wieder einmal Angst hat. Angst haben muss. Im öffentlichen Diskurs scheint alles entweder dies oder das zu sein. Aber jetzt scheint es, dass der richtige Begriff ,und’ ist. Angst und Angst und Angst und Angst. Ich schreibe, und meine Hände zittern.“

Was heißt das, fragen wir ihn: Dass der richtige Begriff „und“ sei ? ...und Angst und Angst und Angst?

Jetzt aber erstmal zur Erklärung:

Guido Wertheimer, geboren im März 1996 in Buenos Aires, kam 2020 nach Berlin. Dort begann er, an der Universität der Künste Szenisches Schreiben zu studieren. Zugleich spürte er den Spuren seiner Verwandten nach, seiner Urgroß- und Großeltern, die als Juden 1938 aus dem nationalsozialistischen Berlin über abenteuerliche Umwege nach Argentinien flohen.

Darüber hat er ein Theaterstück geschrieben. Darin kontrastiert er er die Spurensuche in Archiven, alten Dokumenten, Foto- Film- und Videoaufnahmen mit tagebuchartigen Beobachtungen und Reflexionen über seine Gegenwart in Berlin.

Die Gewalt ist immer noch da

Es gehe ihm um „die Gleichzeitigkeit in dem großen Sprung der Zeit“, sagt er in unserem Gespräch. Natürlich auch als Mahnung: „Es gibt eine Kontinuität. All diese Gewalt ist immer noch da. Es kann jederzeit wieder passieren. Die Toten wollen in Erinnerung bleiben.“ Das Stück heißt „Wir werden diese Nacht nicht sterben“.

2022 erhielt er dafür den „Preis der jungen Dramatik“ der Theater in Braunschweig und Magdeburg. Am Freitag wird es als Produktion des Jungen Staatstheaters im Aquarium des Kleinen Haus uraufgeführt. Regie führt der Autor.

Geister sind überall

Merkwürdig, dass Wertheimer die verblichenen Mitglieder seiner jüdischen Familie als Geister bezeichnet, die ihn in Berlin verfolgen und von ihm erwarten, nicht vergessen zu werden, aber den kabbalistischen Begriff der „Dibbuks“ nicht kennt, welcher genau diese Art von Geister-Gegenwart im Leben jüdischer Menschen meint. Die renommierte jüdische Schauspielerin und Opernregisseurin Adriana Altaras hat sogar einmal beim Festival „Theaterformen“ in Braunschweig diesen Dibbuks ein Solostück gewidmet. Aber auch diese Künstlerin kennt Wertheimer nicht.

Das mag daran liegen, dass Geister für ihn auch naturhafte Wesen wie Eichhörnchen oder Pilze sind. Das klingt, wie er nicht ganz zu Unrecht bemerkt, „ziemlich esoterisch“. Aber vor allem liegt es wohl daran, dass es ihm in seiner Theater-Arbeit nicht in erster Linie ums Jüdische geht. Er bezeichnet sich als nicht religiös, sei nicht Teil der „jüdischen Community“. Auch habe er persönlich keine Angst in seinem Berliner Alltag. „Ich fühle mich dort sehr wohl, sehr daheim.“

Die Angst der Minderheiten

Ihm geht es um alle Minderheiten, die Angst haben müssen. Und zwar zur gleichen Zeit. Die jüdische, die muslimische, die arabische. Etwa auch die queere unter dem neuen rechtspopulistischen Machthaber in seinem Heimatland – „obwohl das nicht meine ist“. Seine Folgerung daraus formuliert er in dem ihm eigenen spanisch gefärbten Deutsch: „Es muss eine Community geben von allen, die fragil sind. Wie sagt man fragil?“

Nun ja: zerbrechlich. Verletzlich eben. Gefährdet. So erklärt sich das mit dem „und Angst und Angst und Angst “: Guido Wertheimer findet es dringlicher denn je: „Alle, die fragil sind, müssen eine Gemeinschaft bilden, um zu überleben.“