Braunschweig. Das Staatsorchester Braunschweig spielt die Musik zum Animéfilm über einen Schiffbrüchigen. Die Hauptrolle spielen Naturgeräusche.

Für manchen wär‘s das Paradies: Eine einsame Insel mit herrlichem Strand, üppiger Vegetation, offenbar einem Süßwassersee und essbaren Früchten. Keine wilden Tiere, und dauerhaft so warm, dass man sich weder Hütte noch Bett bauen muss. Jedenfalls kümmert sich der Schiffbrüchige in Michael Dudok de Wits wunderschön gezeichnetem Animéfilm „Die rote Schildkröte“ um all sowas nicht. Zur Eröffnung des Braunschweiger Filmfests war die Produktion von 2016 nun in der gut besuchten VW-Halle zu sehen.

Nicht im Kino, denn es ist inzwischen Tradition, dass die Eröffnung vom Staatsorchester Braunschweig mitgestaltet wird, das braucht ja Platz. Es spielt den Soundtrack des jeweiligen Films live, was gerade bei Stummfilmen, die einst tatsächlich so begleitet wurden, und historischen Streifen, für die noch große orchestrale Partituren oft von klassischen Komponisten entstanden, zu einer spannenden akustischen Bereicherung durch den Originalklang der im Raum ertönenden Instrumente führte.

Zeichentrickbilder wie animierte Gemälde

Bei der „Roten Schildkröte“ hat das Orchester nun gar nicht so viel zu tun, weil der Film von dem höchst reizvollen Kontrast aus Naturgeräuschen und der nur selten eingesetzten komponierten Musik lebt. Wir müssen uns erstmal einlassen auf das rauschende Meer, das eben noch mit turmhohen Wellen seine Kraft verschwenderisch austobt, auf das leise Rollen der glasklaren See unter blauem Himmel, das Gekribbel der Krabben und seltene Schreie von Möwen oder Seehunden. Wenn ein Mensch hier schreit, hat das keinen großen Effekt, er ist, wie Dörte Hansen so schön schreibt, dem Meer, dem Wind, der Sonne völlig egal.

De Wit fasst das in sehr schöne Bilder, die fast wie animierte Gemälde aussehen. Die Strukturen von Wasser, Sand und Wald erinnern an die flächige Auffassung japanischer Tuschezeichnungen, die auch die Expressionisten beeinflussten, man meint manchmal die Blätter und Gräser van Goghs, aber auch das surreale Poolwasser Hockneys oder im Dschungel einen Hauch des Zöllners Rousseau zu erkennen. Fein wird erfasst, wie das Wasser aus dem Sand des Strandes zurückweicht, der daher verschiedene Färbungen hat.

Mensch tötet Schildkröte

Unser Schiffbrüchiger aber ist ein Kämpfer, ein Sisyphos, der offenbar wieder zurück will in die Zivilisation. Dreimal baut er sich ein Floß, mit dem er jedesmal kentert, weil eine menschengroße rote Meeresschildkröte von unten dagegenstupst. Ob sie nun mit ihm spielen will oder ihn warnen vor der Unendlichkeit des Meeres - er jedenfalls kann offenbar nicht begreifen, dass sein Glück auf dieser Insel liegt. Als sie an Land kriecht, ist er nicht interessiert, das eindrucksvolle Tier kennenzulernen, sondern schlägt sie aus Wut und dreht sie auf den Rücken, so dass sie unter der Sonne verenden muss.

Sind Menschen so? Ja, Menschen sind so. Manche vom Aussterben bedrohte Art, mancher fröhlich die Schiffe begleitende Delfin, mancher alte Baum, der dem Wahn der Urbanität gefällt wird, könnte davon erzählen. Aber der Film erfindet eine poetische Metamorphose, um das Mitleiden, das Erkenne-dich-Selbst im-Andern zu illustrieren: Als der Mensch die Schildkrötenflosse streichelt, wird daraus ein Arm, eine Frau entsteigt dem Panzer, und bald schon krabbelt ein Baby über den Strand. Aus dem wird unter dem Einfluss der Mutter ein Taucher, der mit den Schildkröten schwimmt. Gemeinsam retten sie nach einem Tsunami den Vater aus dem Meer.

Im Fremden das Mitgeschöpf erkennen

Und auch der Mann nimmt später die Schwimmbewegungen der Schildkröten an. Als er stirbt, streichelt die Frau nun seine Hand und wird wieder zur roten Schildkröte. Das Leben aus dem Geist der Schildkröte ist ein glückliches Leben. Als der Schiffbrüchige in der Schildkröte sich selbst, im Fremden ein Mitgeschöpf erkennt, erwächst Liebe (in Wagners „Parsifal“ hieße es Erlösung), ob man sich da nun auf Christentum, Hinduismus oder (wie der Film) Shintoismus beruft.

Die Naturgeräusche, die Wortlosigkeit sind eigentlich gute akustische Mittel, sich da einzufühlen. Trotzdem legt Komponist Laurent Perez del Marmanchmal eine Art Sehnsuchtsmelodie darunter. Erlebt der Gestrandete noch schräg glissierende Streicher, Xylophonklackern und taktende Rassel, erklingt in einer Fatamorgana Janáceks Streichquartett aus der Ferne. Dem Träumer breiten die Streicher einen zarten, weichen Teppich, vor dem sich die Sologeige aussingt. Und wenn‘s ganz dicke kommt, schwelgen auch noch Sopran-Vokalisen auf. Julia Wischniewski hat einen tadellosen Ton, leuchtend und geschmeidig, und doch ist gerade das dann oft zu viel des Guten, so wie wenn zu Abendrot und Meeresrauschen auch noch das Mahler-Adagietto erklingt.

Neoromantisches Orchesterschwelgen

Burkhard Götze am Pult hat vor allem darauf zu achten, dass das Staatsorchester immer rechtzeitig wieder verstummt. Mit der schwelgerischen, neoromantischen Melodie ist es nicht gerade überfordert. Es gibt auch mal eher flötengeprägte Aufhellung, wenn die Frau erwacht. Im Regen trommeln Pauken und Bongos, zum Tsunami ballen sich bedrohliche Pauken und große Trommel zu schwappendem Orchester und hoffnungsvollen Vokalisen. Und mit Harfe und Solo-Geige träumt sich der Sohn in die Ferne. Gefühlsmusik, aber genau so schlicht und happig und unmissverständlich aufgetragen, wie man das Filmmusik klischeehaft immer zuspricht.

Für ein Filmkonzert war „Die rote Schildkröte“ eher nicht die beste Wahl. Vielleicht sollte man doch wieder zu historischen Glanzlichtern greifen, da gäbe es noch einige zu entdecken wie „Robin Hood“ mit der oscargekrönten Filmmusik von Erich Wolfgang Korngold oder Murnaus „Tabu“ mit der Neukomposition von Viloleta Dinescu. „Die rote Schildkröte“ ist ein sehr schöner, anrührend-philosophischer Film und durchaus auch ein Gesamtkunstwerk aus Bild, viel Geräusch, viel Ruhe und wenig Musik, die aber nicht live gespielt werden muss.