Braunschweig. Am 6. November beginnt die 37. Festival-Ausgabe mit einem Animationsfilm-Konzert. Programmchefin Karina Gauerhof erzählt, was sie besonders macht.

Seit drei Jahren leitet die 32-jährige Medienwissenschaftlerin und Anglistin Karina Gauerhof gemeinsam mit Organisationschefin Anke Hagenbüchner-Sobiech das traditionsreiche Braunschweig International Filmfestival. Gauerhof, die zuvor im Gästemanagement des Festivals und als Assistentin der Direktion tätig war, ist vor allem für das Programm verantwortlich. Wir sprachen mit ihr über Höhepunkte der 37. Ausgabe, Horrorfilme und prominente Gäste.

Das Filmfest eröffnet am Montagabend um 19 Uhr in der Volkswagen-Halle mit dem Animationsfilm „Die rote Schildkröte“ aus dem Jahr 2016. Das Staatsorchester spielt den Soundtrack live dazu. Warum ein sieben Jahre alter Film und kein aktueller?

Es gibt nur wenige Filme, die für ein Filmkonzert infrage kommen, abgesehen davon, dass viele rechtliche Punkte zu klären sind. „Die rote Schildkröte“ eignet sich ganz hervorragend, weil sie ein wunderbarer moderner Stummfilm ist. Es sind zwar Geräusche zu hören wie Wind und Meeresrauschen, aber es gibt keine gesprochenen Dialoge. Sie werden gleichsam durch die Musik ersetzt. Live wird das ein besonders intensives Erlebnis werden. Wir haben das Festival noch nie mit einem Animationsfilm gestartet. Wir wollen damit auch neue Perspektiven aufmachen.

Animationsfilme sollen ein Schwerpunkt der 37. Ausgabe sein - warum?

Das Genre hat es in Deutschland schwer, weil es hier mit Kinderfilmen gleichgesetzt wird. In der Filmförderung wird nur wenig Geld für Animationsfilme zur Verfügung gestellt, und wenn, dann eben für Kinderproduktionen. In Ländern wie Frankreich und Spanien sieht das ganz anders aus. Da gibt es große Produktionen für ein erwachsenes Publikum. Wir haben etwa „Mars Express“ aus Frankreich im Programm, ein toller Science-Fiction-Film-Noir, und zwei starke Filme aus Spanien, „Tender Metalheads“ und „Unicorn Wars“. Letzterer ist als blutiges Antikriegsmärchen zu verstehen..

Warum muss man in einer Zeit voller furchtbarer Kriegsbilder auch noch blutige Antimationsfilme zeigen?

Die Filmwelt verschließt sich nicht vor der Realität, sondern spiegelt sie mit ihren Mitteln. Die sind im Animationsfilm besonders vielfältig. „Unicorn Wars“ erzählt von einem Krieg, aber die Protagonisten sind plüschige Teddybären und niedliche Einhörner. Der Horror wird dadurch einerseits abgeschwächt, durch den Kontrast andererseits noch intensiver vermittelt. In unserer Animationsreihe gibt es einige Filme, die mit ihren besonderen künstlerischen Mitteln auf neue Weise von Trauma, Krieg und Flucht erzählen.

Hannah Herzsprung in einer Szene des Films „15 Jahre“. Die Schauspielerin ist bei der Vorstellung am Donnerstag, 9. November, 20.15 Uhr, im Universum-Kino zu Gast in Braunschweig. 
Hannah Herzsprung in einer Szene des Films „15 Jahre“. Die Schauspielerin ist bei der Vorstellung am Donnerstag, 9. November, 20.15 Uhr, im Universum-Kino zu Gast in Braunschweig.  © filmfest | Wild Bunch Germany

Im vergangenen Jahr gab es in Kooperation mit den Filmfestivals von Kiew und Odessa einen Ukraine-Schwerpunkt. Bei dieser Filmfest-Ausgabe wird überhaupt kein Film aus der Ukraine gezeigt. Warum nicht?

Im vergangenen Jahr haben wir den russischen Angriffskrieg zum Anlass genommen, dem Filmland Ukraine eine besondere Bedeutung beizumessen und die 30 Jahre der Unabhängigkeit in Filmen Revue passieren zu lassen. Wir versuchen jedes Jahr neue interessante Schwerpunkte zu setzen. Das kann nicht immer ein Ukraine-Fokus sein. Wir sichten eine Vielzahl von internationalen Filmen. Diesmal haben es keine ukrainischen Produktionen ins Programm geschafft. Das hat verschiedene Gründe, beispielsweise auch, dass eine Deutschland-Premiere schon einem anderen Festival zugesagt wurde.

Welche Schwerpunkte gibt es dieses Jahr neben dem Animations-Fokus?

Es gibt keinen roten Faden, der sich durch das gesamte Programm zieht. Wir wollen ein breites Spektrum anbieten. Wir haben diesmal mit unserer Mitternachtsreihe auch ein Angebot für hartgesottene Filmfans, die blutiges und extremes Kino mögen. Im Hauptwettbewerb mit Produktionen junger europäischer Regisseure und Regisseurinnen beschäftigen sich viele Filme mit Themen, die Millennials betreffen, also Leute zwischen 30 und 40 Jahren. Da geht es um Midlife-Crisis und die Perspektivlosigkeit, die viele Menschen aktuell empfinden.

Die Reihe „New French Extremity at Midnight“ zeigt ziemlich grausame Filme. Es ist durchaus fragwürdig, dass sich Menschen an Darstellungen erfreuen, wie andere Menschen abgeschlachtet werden. Warum bietet das Filmfest solchen Streifen ein Podium?

Ausschlaggebend war der Film „High Tension“ mit unserer „Europa“-Preisträgerin Cécile de France. Er stand 20 Jahre auf dem Index, löste in Frankreich aber eine neue Welle von Gewaltfilmen in nie dagewesener Härte aus. Gewalt- und Horrorfilme entstehen nicht im leeren Raum, oft stehen auch gesellschaftliche oder politische Motive dahinter. Diese Filme zeigen wir bewusst zu später Stunde, und wir wollen damit auch zum Diskurs über das Genre einladen. Produktionen wie „In my Skin “ und „Trouble every day“ kommen eher aus dem Arthouse-Bereich und stehen für unsere Mitternachtsreihe – den schmalen Grat zwischen Arthouse und Genrefilm.

Luna Jordan (links) in
Luna Jordan (links) in "Dead Girls Dancing". Der Nachwuchs-Star wird bei der Vorstellung am Freitag, 10. November, um 18 Uhr im Universum zu Gast sein.  © filmfest | Kalekone Films

Beim Filmfest werden insgesamt zehn Preise vergeben, und es gibt neben dem Hauptwettbewerb neun verschiedene Reihen. Geht diese große Vielfalt nicht zulasten eines klaren Festival-Profils?

Wir haben ein klares Profil: europäische Nachwuchsfilme. Ihnen ist der Hauptwettbewerb mit dem Publikumspreis „Der Heinrich“ und dem Preis unseres Hauptsponsors Volkswagen Financial Services gewidmet, den eine Jury vergibt. Man darf unsere Preise aber nicht mit den Reihen gleichsetzen. Viele werden reihenübergreifend vergeben, etwa die „Tilda“ für Nachwuchsregisseurinnen, der Jugendfilmpreis „Kinema“ für junge deutsch- und französischsprachigen Filme oder der queere Filmpreis „Echt“. Auch auf der Berlinale gibt es eine Fülle von Sektionen. Und unsere Filmreihen sind schon klar strukturiert, wie ich finde. Der Hauptwettbewerb präsentiert europäische Debüt- und Zweitfilme, die Reihe Internationales Kino zeigt Filme aus aller Welt. Da haben wir dieses Jahr große Namen wie Wim Wenders und Ken Loach im Programm. Wir zeigen aber auch aktuelle deutschsprachige Filme. Im Fokus steht zumeist der Nachwuchs.

Cécile de France in ihrem neuen Film
Cécile de France in ihrem neuen Film "Bonnard, Pierre et Marthe". Am Samstag, 11. November, 15.30 Uhr, ist sie im Astor-Kino persönlich im Podiumsgespräch zu erleben.  © filmfest | Carole Bethuel

Mit dem Darstellerpreis des Festivals „Die Europa“ wird dieses Jahr die belgische Schauspielerin Cécile de France ausgezeichnet. Warum ist die Wahl auf sie gefallen?

Wir hatten Cécile de France schon länger im Auge. Sie ist seit mehr als 20 Jahren im Filmgeschäft und zählt in Frankreich zu den bekanntesten Schauspielerinnen. Auch in Deutschland sind fast alle ihrer Filme ins Kino gekommen. Zuletzt hat man sie auch in der ZDF-Serie „Der Schwarm“ als forschende Ärztin gesehen. Sie deckt eine große Bandbreite an Genres ab. Sie hat sich übrigens persönlich gewünscht, dass der Horrorfilm „High Tension“ als Teil ihrer Retrospektive beim Festival läuft, weil sie auch diese schauspielerische Leistung repräsentiert sehen will. Sie ist ungeheuer wandlungsfähig. Aktuell ist sie im Historienfilm „Bonnard, Pierre et Marthe“ zu sehen. Er feierte in Cannes Premiere, kommt erst nächstes Jahr in die Kinos, läuft aber jetzt schon bei uns im Filmfest. Da spielt sie die Frau und Muse des Malers Pierre Bonnard. Wer Cécile de France noch nicht kennt, sollte das Festival unbedingt nutzen, um sie kennenzulernen.

Wer entscheidet, wer die „Europa“ bekommt?

Ich entscheide das gemeinsam mit dem Vorstand und dem Filmfestverein. Wer es wird, hat auch mit Terminfragen zu tun. „Die Europa“ ist mit 25.000 Euro dotiert. Trotzdem ist es nicht einfach für gefragte Schauspielerinnen und Schauspieler, nach Braunschweig zu kommen, weil das auch mit einigem Aufwand verbunden ist. Bei Cécile de France passte es gut. Sie steckt zwar auch mitten in einem Dreh, kann aber für die Auszeichnung eine kurze Pause machen. Wir freuen uns sehr auf sie.

Die großen Festivals von Cannes bis zur Berlinale ziehen ihre Attraktivität auch aus einem großen Aufgebot von Stargästen. Ist es schwer, prominente Gäste für Braunschweig zu gewinnen?

Wir zeigen die Stars von morgen. Regisseur Chris Kraus und Schauspielerin Hannah Herzsprung haben bei uns 2006 den Publikumspreis „Heinrich“ für „Vier Minuten“ gewonnen. Nun sind sie wieder da, mit ihrem neuen Film „15 Jahre“, eine Fortsetzung von „Vier Minuten“. Wir hatten immer wieder spannende junge Gäste, die dann Karriere machten. Es ist wichtig für Festivals, früh Kontakte aufzubauen. Chris Kraus ist uns bis heute sehr verbunden, weil er anerkennt, dass wir sein Talent früh entdeckt haben. Also: Viele unserer Gäste sind die Stars von morgen.

Welche Gäste zählen dieses Jahr dazu?

Stefan Gorski wird vermutlich kommen, der Hauptdarsteller der Robert-Seethaler-Verfilmung „Ein ganzes Leben“. Er ist für den Braunschweiger Filmpreis für Nachwuchsdarsteller nominiert. Auch bei Luna Jordan sehe ich großes Potential. Sie ist in „Dead Girls Dancing“ zu sehen.

Es ist das dritte Filmfest unter deiner künstlerischen Leitung. Ein erklärtes Ziel war, mehr jüngere Leute für das Festival zu interessieren – klappt das?

Wir sind sehr aktiv auf Social Media und merken, dass wir dort viele junge Menschen erreichen. In diesem Jahr haben zudem in Kooperation mit der Technischen Universität erstmals alle Studierenden freien Eintritt zu den Filmen - für die HBK-Studierenden gilt das schon länger. Allerdings können die Studierenden die Tickets erst am Tag der Vorstellung buchen - alle anderen Kinofans können sich also im Vorverkauf in jedem Fall einen Platz sichern. Und wir bieten vormittags ausgewählte Filme eigens für Schulklassen an.

Welche fünf Filme oder Veranstaltungen sollte man aus deiner Sicht nicht verpassen?

In aller Kürze erstens: das Filmkonzert „Die rote Schildkröte“ zur Festivaleröffnung. Zweitens: Aus der Animationsreihe „Die Sirene“. Der wunderschön inszenierte Film erzählt aus Sicht eines 14-jährigen Jungen sehr berührend vom ersten Iran-Irak-Krieg. Drittens: Aus der Reihe internationales Kino würde ich den Film „The Burdened“ empfehlen. Er gibt anhand eines Familienschicksals eindringlich Einblick in die Lage im Bürgerkriegsland Jemen. Viertens: etwas ganz anderes - „Zillion“. Der Film basiert auf der wahren Geschichte von Frank Verstraeten, einem belgischen Computergenie, das hinterzogene Steuermillionen in einen Antwerpener Techno-Club investiert hat: ein verrückter, bunter Ritt voller Beats, Sex, Drogen, Schwarzlicht. Fünftens: „Once upon a time in Germany“, ein Zusammenschnitt von 50 Kilometern privater Super-8-Filme aus Deutschland. Das ist ein Projekt des Hannoveraner Kinokünstler-Paares Wiebke und Johannes Thomsen, die es Freitagabend in der Petrikirche noch live vertonen.