Braunschweig. Der Staatsorchester-Fagottist Alfred Böhm geht nach fast 40 Jahren in den Ruhestand. Für ihn war die Musik Seelennahrung.

Im jüngsten Sinfoniekonzert war sein offizieller Abschied, am Sonntag spielt er nochmal im Kammerkonzert solistisch mit: Für den Fagottisten Alfred Böhm war das Staatsorchester, so sagt er es am Ende unseres langen Gesprächs mit sichtlicher Rührung: „Heimat. Und sie wird es bleiben“, auch wenn er nach fast 40 Jahren nun seinen Ruhestand antritt. „Wir Fagotte haben ja selten die ganz auffälligen, einprägsamen Stellen, wir sind mehr im Maschinenraum des Orchesterdampfers tätig. Aber der Heizer kommt eben auf seinem Posten auch mit nach Amerika“, pointiert er schön.

Der im Sommer verstorbene Braunschweiger Ehrendirigent Stefan Soltesz habe es noch etwas drastischer ausgedrückt: „Wenn ich keine Bässe höre, dann scheiß ich auf die Melodie.“ Und die Bässe der Holzbläser sind nunmal die Fagotte, und wenn in Wagners „Rheingold“ der Urgrund allen Seins mit dem minutenlangen Es-Dur gelegt wird, dann treten sehr schnell zu den Kontrabässen der Streicher auch die Fagotte dazu, damit es auch richtig rund und füllig klingt. Und manchmal greifen die Fagottisten, so erzählt Böhm, auch zum Kontrafagott, das ist noch größer und noch tiefer und gibt z.B. in Haydns „Schöpfung“ dem Lasten der Geschöpfe auf der Erde Ausdruck - ein sehr zeitgemäßer Gedanke.

Fagotte sind Chamäleons des Orchesters

Aber die Fagotte können auch gut mit jedem anderen Instrument, so Böhm, werden oft mit den Celli, in Mozart-Arien gern mit den Flöten, in Beethovens „Fidelio“ mit den Hörnern, bei Mahler als Todesboten mit dem tiefen Tamtam kombiniert. „Wir sind so etwas wie die Chamäleons des Orchesters“, sagt er. „Wir können die Clowns sein“, wohl wegen des etwas blubbernden Tons, „aber wir haben auch eine melancholisch-emotionale Seite“, eben weil der Klang so schön dunkel und weich ist. Böhm hat natürlich ausführliche Beispiele parat, wo eben doch die Fagotte einen klanglichen Lichtstrahl der Menschlichkeit ins Geschehen bringen. Vielleicht eben weil sie nicht so abgehoben, sondern erdverbunden sind.

Böhm schätzt dieses baritonale Timbre des Fagotts, „wie ein guter Rotwein“. Aber das Fagott kann auch tenorale Höhe erreichen. „In dieser wunderbaren Arie ,Una furtiva lagrima‘ aus Donizettis ,Liebestrank‘ machen Fagott und Harfe die ganze Stimmung, bevor der Tenor überhaupt Luft geholt hat“, pointiert Böhm.

Liebe auch zum Saxophon

Die etwas mystische Klangfarbe des Fagotts war natürlich auch was für Richard Wagner, aber er wollte gleich wieder was Spezielles. „Wir kommen eigentlich gut runter bis zum Kontra-B, aber er verlangt das Kontra-A. Das erreichen wir aber nur mit einer Rohrverlängerung, der sogenannten Tristan-Stürze. Wir benutzen dafür Küchenpapierrollen. Aber nachher will er wieder das Kontra-B, da muss sie wieder raus. Im ,Ring‘ wären wir da ständig am Wechseln, deshalb teilen wir uns das in der Fagott-Gruppe auf. Einer nimmt die Stürze und spielt den tiefen Ton, dann übernehmen wieder wir.“

Es gehört eben auch viel Handwerk zur Musik. Böhm hat das Instrument auf der Augsburger Internatsschule, die ein sehr gutes Orchester hatte, ausprobiert und sei gut damit klar gekommen. „Ich habe auch viel Saxophon gespielt, aber damit hätte ich nie Bachs ,Matthäuspassion‘ oder Mozarts ,Zauberflöte‘ spielen können“, sagt Böhm. Beide Instrumente bediente er noch im Bayerischen Landesjugendorchester, studierte dann aber in München Fagott, um ins klassische Orchester einzutreten. 1984 kam er nach Braunschweig ins Festengagement.

Neues Haus der Musik wichtig für Staatsorchester-Klang

In den Münchner Sinfoniekonzerten erlebte er noch Legenden wie Bernstein, Celibidache oder Kubelik. „Wir waren richtig ausgehungert nach Kultur, heute ist alles ständig verfügbar. Für uns war es bewegend, dass etwa Mendelssohns Violinkonzert und die ganze von Nazis unterdrückte Musik noch nicht lange wiederentdeckt waren“, betont Böhm. Heute gehe es viel um Spielweisen, historisch informierte Aufführungspraxis. „Und jeder junge Dirigent sagt uns, dass er Beethoven nun endlich genauso spielen will, wie Beethoven es gewollt hat.“

Wenn wie jetzt sehr viele erfahrene Kräfte gingen und durch junge Musikerinnen und Musiker ersetzt würden, sei es nicht ganz einfach, den über Jahre erarbeiteten Klang zu halten. „Kommen nur wenige, passen sie sich der Gruppe an, aber bei so vielen ist das schwieriger.“ Ein neuer Konzertsaal werde für die Ensemble- und Klangbildung wichtig sein. „Natürlich beeinflusst ein Saal den Klang. Ich kann nur wünschen, dass das Haus der Musik Wirklichkeit wird, damit man erkennen kann, was für ein Juwel unser Staatsorchester ist.“

Der heillosen Welt das Seelisch-Emotionale entgegensetzen

Böhm ist auch durchaus für neue Interpretationsansätze offen. „Man muss sich einem Gastdirigenten zur Verfügung stellen, ihm vertrauen. Es ist ja immer möglich, dass er mit seiner Sicht Recht hat, dass wirklich etwas ganz Phänomenales daraus wird.“ Nicht immer entstehe etwas für die Seele Nahrhaftes, mancher habe in seiner strukturfixierten Sicht vielleicht auch Angst vor Gefühlen. „Aber es ist genau dies, dieses Seelisch-Emotionale, was wir all dem entgegensetzen müssen, was sonst auf der Welt passiert“, bekräftigt Böhm.

Ihm selbst sei Musik immer genau dies gewesen, Seelennahrung. Und das sicher besonders intensiv, weil einer seiner beiden Söhne schwer behindert ist, seine Frau schwerkrank. Nachdem er sie jahrelang selbst gepflegt hat, muss sie jetzt in einer Wohngruppe betreut werden, er kann sich nur noch über Augenblinzeln mit ihr unterhalten. „Ich habe darüber nie groß gesprochen. Aber es gab eben diese Tage, an denen ich keine Betreuung finden konnte, in der ,Parsifal‘-Pause nach Hause gefahren bin, um meine Frau zu versorgen, und dann wieder pünktlich im Graben saß.“ Manchmal habe er sich zu Beginn einer Oper gefühlt wie eine zerknitterte Brötchentüte. „Aber nach einer Stunde Mozart-Spielen waren die Falten wieder ausgebügelt, fühlte ich mich wieder belebt.“

Vielleicht Revival von „Fagotto totale“

Und am erfüllendsten waren Momente wie neulich beim Konzert auf dem Hügel im Park, als ambulante Dienste seine Frau und seinen Sohn dazugeholt haben und sie dieses Konzert gemeinsam erleben konnten. „Das ist natürlich immer alles sehr aufregend mit der Organisation, aber eben auch ein unvergessliches Erlebnis.“

In Braunschweig hat Böhm auch an der Städtischen Musikschule unterrichtet, mit Bernd Goetzkes Niedersaxofonikern gejazzt und mit Georg Renz und zwei anderen Fagott-Kollegen als humoristisches Quartett „Fagotto totale“ Furore gemacht. „Es ist im Gespräch, dass es vielleicht ein Revival gibt“, verrät Böhm, damals gab es ja regelrechte Fan-Cliquen, die sich sogar T-Shirts drucken ließen. So populär kann das Fagott in Braunschweig werden!

Böhm unterstreicht, wie groß auch bei den ernsten Konzerten der Anteil der Zuhörenden ist. „Sternstunden kann man nicht bestellen, sie hängen von uns, vom Dirigenten, aber auch von der Gestimmtheit aller ab.“ Celibidache habe mal gesagt: „Wir können nur üben, und wenn wir Glück haben, wird es Musik.“ Böhm: „Da kann ich nur sagen: Wir hatten mit dem Staatsorchester oft viel Glück!“

Im Kammerkonzert am Sonntag, 5. November, 11 Uhr, im Spohr-Saal des Staatstheaters spielen Alfred Böhm und Kolleginnen und Kollegen u.a. Schuberts und Krommers Oktett und Auszüge aus Gershwins „Porgy and Bess“. Karten: (0531) 1234567.