Wernigerode. Drei Viertel der Fläche im Nationalpark Harz gehören inzwischen zur Naturdynamikzone – Im Revier Bruchberg hat sich ein vitaler Naturwald etabliert.

Am 21. März ist Internationaler Tag des Waldes – und passend zu diesem Anlass informiert der Nationalpark Harz über das Wachsen der neuen Waldwildnis in seinen Revieren, denn: Der Nationalpark Harz ist heute wilder denn je. Drei Viertel der Fläche des 25.000 Hektar großen Schutzgebietes gehören inzwischen zur Kernzone, der Naturdynamikzone, wo keine menschlichen Eingriffe mehr erfolgen. Getreu dem Nationalpark-Motto „Natur Natur sein lassen“ darf sich die Natur dort frei entfalten und dynamisch weiterentwickeln.

Dieses besonders streng geschützte Areal ist im Laufe der Jahrzehnte beständig angewachsen: Bei der Gründung des länderübergreifenden Nationalparks Harz im Jahr 2006 – beim Zusammenschluss der beiden früheren Nationalparke in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen – machte die Naturdynamikzone lediglich 41 Prozent der Fläche aus. Die gesetzlich vorgegebene Aufgabe des Nationalparks, der ein Entwicklungsnationalpark ist, bestand darin, den Anteil auf 75 Prozent zu erhöhen. Dies ist gelungen. Der Harzer Nationalpark ist seit Gründung einer der größten Waldnationalparke in Deutschland.

Einer, der diesen spannenden Prozess des Wachsens der neuen Waldwildnis im Harz seit langem begleitet, beobachtet und zusammen mit seinen Kollegen auch tatkräftig fördert, ist Klaus-Dieter Schultze, gelernter Förster und seit 1999 Leiter des Nationalpark-Reviers Bruchberg, das sich größtenteils am westlichen Rand des Schutzgebiets zwischen Altenau, Torfhaus, Sonnenberg und Oderteich erstreckt. Es umschließt den namensgebenden Bruchberg, der zweithöchste Berg in Niedersachsen, mit der Wolfswarte, einer waldlosen Kuppe. Außerdem gehört weiter nördlich das Quellgebiet der Baste, einem Zufluss der Radau, zum Revier. Der Bruchberg war schon vor der Gründung des Nationalparks in Niedersachsen Teil des Naturschutzgebietes Oberharz.

Viel Naturdynamikfläche im Revier Bruchberg

Das Revier Bruchberg hatte wegen seiner großen Flächenanteile über 750 Höhenmetern von Anfang an einen sehr hohen Anteil an Naturdynamikfläche, erläutert Schultze. In diesen Bereichen kommt die Fichte als Hauptbaumart natürlich vor. In den tieferen Lagen ist die Buche eigentlich die Baumart, die den Wald prägt. Große Teile der Revierfläche waren deshalb bereits in der Naturdynamikzone, als Schultze das Revier Ende der 1990er Jahre übernahm. „Schon damals konnte viel sich selbst überlassen werden. Bald nach der Einrichtung des niedersächsischen Nationalparks im Jahr 1994 war die Idee entstanden, eine waldschutzfreie Zone einzurichten und zu sehen, was passiert, wenn wir nichts machen.“ Als Waldschutz im forstwirtschaftlichen Sinne werden unter anderem Maßnahmen des Pflanzenschutzes bezeichnet, etwa gegen Wildverbiss, Pilzbefall – oder auch die Bekämpfung von Borkenkäfern.

„Wald ist eine Vegetationsform, die sich immer durchsetzt, wenn man sie lässt“, sagt Klaus-Dieter Schultze, gelernter Förster und seit 1999 Leiter des Nationalpark-Reviers Bruchberg.
„Wald ist eine Vegetationsform, die sich immer durchsetzt, wenn man sie lässt“, sagt Klaus-Dieter Schultze, gelernter Förster und seit 1999 Leiter des Nationalpark-Reviers Bruchberg. © Nationalpark Harz | Ingrid Nörenberg

Am Bruchberg wurde damit schon vor Jahrzehnten eine Entwicklung vorweggenommen, die inzwischen fast den ganzen Nationalpark und auch die Wirtschaftswälder erfasst hat. Die Waldfläche im Revier Bruchberg bestand damals – wie der größte Teil des Harzes – aus gleichförmigen Fichten-Monokulturen. Und dort passierte bereits 1995 und 1996 genau das, was seit ein paar Jahren überall im Harz und in vielen anderen Waldgebieten in Deutschland zu beobachten ist: „Die Borkenkäfer haben auf etwa 500 Hektar die Fichten zum Absterben gebracht“, berichtet der Revierleiter. Das sei eine ganz natürliche Entwicklung. „Der Borkenkäfer gehört zum Wald wie das Eichhörnchen und der Specht. Und dass die Fichte ein Problembaum ist, lernen wir Förster schon in der Ausbildung. Die Massenausbreitung des Borkenkäfers zu verhindern, bedeutet permanente Arbeit.“ Wenn man damit aufhört, nimmt die natürliche Entwicklung ihren Lauf. „Der Wald am Bruchberg war auf fast 500 Hektar abgestorben. Aber das war eben auch kein natürlich gewachsener Wald.“ Und auch die Debatte um das richtige Vorgehen in dieser Situation ähnelte der heutigen, erinnert sich Schultze: In der Folge – und unter dem Druck der öffentlichen Meinung – wurde damals politisch entschieden, dass die Borkenkäferbekämpfung am Bruchberg doch wieder aufgenommen werden solle, und zwar massiv: „Jeder Käferbaum, den wir gefunden haben, wurde gefällt und geschält. Weil dies alles in der Naturdynamikzone geschah, verblieb das Holz als Biomasse in der Fläche. Dafür gab es dann aber auch wieder Kritik: Was hat das mit Nationalpark zu tun?“

2004 bei der Vorbereitung der Fusion der beiden Harzer Nationalparke wurde dann jedoch endgültig entschieden, dass auch in der Naturdynamikzone nicht mehr in das natürliche Geschehen in Hinblick auf den Borkenkäfer eingegriffen wird. In einer Randzone an der Außengrenze des Nationalparks wurde allerdings auch weiterhin eine intensive Bekämpfung des Borkenkäfers durchgeführt.

„Wo es ging, haben wir die Natur laufen gelassen.“

Für die Nationalpark-Förster bedeutet die Ausweitung der Naturdynamikzone, zu überlegen, welche Flächen der natürlichen Entwicklung überlassen werden können – und wo noch Entwicklungsarbeit nötig ist. „Das war das Leitmotiv meiner Arbeit“, sagt Schultze. „Wo es ging, haben wir die Natur laufen gelassen.“ Und was Schultze heute in seinem Revier sieht, stimmt ihn sehr optimistisch, auch für den Nationalpark als Ganzes: Die Spuren des einst so massiven Borkenkäferbefalls am Bruchberg sind nicht mehr zu sehen. „Die nächste Waldgeneration ist komplett da. Heute gibt es viele tolle Ecken im Revier. Es war und ist eine sehr dynamische Entwicklung.“

Doch bedingt durch die lange Außengrenze und die Nachbarschaft zu Wirtschaftswäldern gab und gibt es auch einen beträchtliche Anteil „Naturentwicklungszone“ im Revier Bruchberg. Die Naturentwicklungszone ist sozusagen die Vorstufe zur Naturdynamikzone: An einigen Stelle benötigt die Natur im Nationalpark noch Unterstützung durch die Menschen, bevor sie ganz sich selbst überlassen werden kann, denn die mehr als 3.000-jährige Bergbaugeschichte hat deutliche, noch heute sichtbare Spuren hinterlassen. Die Erzgewinnung verbrauchte große Mengen Holz, die ausgedehnten Harzer Laubwälder wurden dafür geplündert. Aufgeforstet wurde in den vergangenen Jahrhunderten mit schnellwachsenden Fichten, die allerdings nur wenig an ihre neuen Standorte angepasst und damit anfällig für Stürme und Schädlinge sind. In der Naturentwicklungszone führt die Nationalparkverwaltung deshalb noch für eine überschaubare Zeit Waldentwicklungsmaßnahmen durch, um den Landschaften auf dem Weg zurück zur Wildnis zu helfen. Ehemalige Fichtenforste werden mit den eigentlich dort heimischen Buchen unterpflanzt – als „Starthilfe“ für den Naturwald von morgen.

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Auch Schultze hat in seinem Wald viel „Entwicklungshilfe“ gegeben, „sehr früh und sehr intensiv“, wie er betont. „Im Jahr 2000 haben wir die ersten Buchen gepflanzt. Mittlerweile sind es 1,2 Millionen. Allein im Revier Bruchberg.“ Insgesamt wurden im Nationalpark bis 2022 mehr als 6,4 Millionen Laubbäume gepflanzt. „Der älteste Bestand gepflanzter Buchen in meinem Revier ist jetzt also 23 Jahre alt. Die haben sich gut etabliert.“ Es ist ein vitaler Mischwald entstanden –genau wie beabsichtigt.

Die einst von den Menschen verdrängte Baumart Buche ist wieder da, freut sich der Förster. Und sie gedeihe sehr gut, selbst unter schwierigen Bedingungen: „Wenn wir auf die drei trockenen Jahre zurückblicken, dann kann ich feststellen: Die Buchen im Revier haben sich erstaunlich gut gehalten. Sie konnten sich offenbar gut an die Verhältnisse anpassen.“ Doch nicht nur das: Auch die natürlich nachgewachsenen Fichten – Naturverjüngung, wie die Forstleute es nennen – stehen gut da. Schultze vermutet, dass dies mit einem veränderten Wasserhaushalt in den Hochlagen des Bruchbergs zu tun hat: Alte Entwässerungsgräben sind zugewachsen oder wurden beseitigt, der menschengemachte Abfluss des Wassers aus der Fläche wurde gestoppt.

„Es gibt keine großen, gleichförmigen Reinbestände mehr.“

Im Vergleich zu seiner Anfangszeit als Revierleiter sind heute aber völlig andere, vielfältigere Waldstrukturen entstanden, beschreibt Schultze: So gibt es zwischen den Buchenbeständen inselartige Flächen, auf denen nach wie vor ausschließlich Fichten wachsen. Und daneben auch größere Flächen, die völlig waldfrei sind. „Es gibt keine großen, gleichförmigen Reinbestände mehr.“ Das ist der entscheidende Unterschied zu den einstigen Wirtschaftswäldern. Den größten Teil seines Reviers hat Schultze mittlerweile in die Naturdynamikzone übergeben, sie macht dort um die 80 Prozent der Fläche aus. Das übergeordnete Ziel für den gesamten Nationalpark ist, dass die Naturdynamikzone den überwiegenden Teil des gesamten Schutzgebietes ausmacht. „Natürlich gibt es immer Bereiche, wo man etwas machen muss, an den Außengrenzen oder entlang von Verkehrswegen. Aber wir haben noch keine Fläche wieder aus der Naturdynamikzone zurückgeholt“, sagt er. „Das soll auch nicht sein, es ist eine Einbahnstraße. Darum muss man als Revierleiter gut abwägen, ob man eine Waldfläche sich selbst überlassen kann.“

Schultze blickt sehr zufrieden auf das Ergebnis seiner mehr als zwei Jahrzehnte währenden Arbeit als Nationalpark-Revierleiter zurück: „Es ist toll, was sich entwickelt hat. Im Alltagsgeschäft kriegt man das oft gar nicht so mit. Ich würde gern in 50 oder 60 Jahren noch mal vorbeikommen und nachschauen“, sagt der 62-Jährige augenzwinkernd. Um den Wald im Harz macht sich Schultze keine Sorgen –jedenfalls wenn die Menschen klug handeln: „Wald ist eine Vegetationsform, die sich immer durchsetzt, wenn man sie lässt.“

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