Brüssel. Kommt der türkische Präsident zum großen Europa-Gipfel? Die EU hofft auf eine Wende. US-Präsident Biden lockt Erdogan mit einem Deal.

Nach dem Wahlsieg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan stellt sich für Europas Staats- und Regierungschefs eine dringende Frage: Kommt er oder kommt er nicht? Erdogan ist am Donnerstag zum zweiten Gipfeltreffen der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft nach Moldawien eingeladen – zusammen mit den Spitzen der 27 EU-Staaten und neun weiterer Länder Europas. Auf Schloss Mimi nahe der Hauptstadt Chisinau stehen Kanzler Olaf Scholz und seine Kollegen bereit, dem Wahlsieger per Handschlag zu gratulieren, für Erdogan sicher eine Genugtuung.

Der türkische Präsident und die EU-Spitzen können auf neutralem Boden auch sondieren, ob es die Chance für einen Neustart der Beziehungen gibt – oder sich die Konfrontation noch verschärft. Eine Entscheidung über die Gipfelteilnahme hat Erdogan nach Angaben des Präsidentenpalastes bisher noch nicht getroffen. Der 69-Jährige dürfte aber erfreut registriert haben, dass sich die Europäer nach seinem Triumph um überraschend versöhnliche Töne bemühen.

Der im Amt bestätigte türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Rede am Dienstag in Ankara.
Der im Amt bestätigte türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Rede am Dienstag in Ankara. © AFP | ADEM ALTAN

Kanzler Scholz etwa lud Erdogan nach Berlin ein, verbunden mit dem Wunsch, die Zusammenarbeit zwischen beiden Regierungen „mit frischem Elan anzugehen“. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell versicherte, die EU habe ein strategisches Interesse an einer kooperativen Beziehung mit der Türkei. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warb bei Erdogan für gemeinsame Anstrengungen zur Beendigung des Ukraine-Kriegs, verbunden mit der Verabredung zu einem baldigen Treffen.

Wegen Nato-Streit: US-Präsident Biden bereitet Deal mit Erdogan vor

Dabei hätten fast alle Regierungen in der EU lieber eine krachende Niederlage des Amtsinhabers in Ankara gesehen, nur Ungarns Premier Viktor Orban, ein Bewunderer autokratischer Staatsführung, hatte ihm die Daumen gedrückt. Zu groß war der Ärger über Erdogan, der sich politisch immer weiter von Europa entfernt hatte und zunehmend hemmungslos über die EU geschimpft hatte.

Und: „Eine Niederlage wäre das Signal gewesen, dass auch autokratische Herrscher wieder abgewählt werden können, wenn sich eine starke Opposition einig ist“, sagt ein EU-Diplomat. Doch war die Führungsebene der EU vorsichtig genug, sich nicht in den türkischen Wahlkampf einzumischen. Und nun? Pragmatismus sei gefragt, heißt es in Brüssel. Der Chef der Türkei-Delegation im EU-Parlament, Sergej Lagodinsky, sagt: „Wir müssen sehen, wo wir ohne großen Vertrauensvorschuss miteinander arbeiten können.“ US-Präsident Joe Biden macht den Europäern gerade vor, wie es notfalls auch gehen könnte.

Im Tauziehen um die türkische Blockade des Nato-Beitritts Schwedens zeichnet sich eine Lösung ab: Erdogan gibt den Weg für Schweden frei, dafür liefern ihm die USA amerikanische F-16-Jets. Biden skizzierte den Deal in Washington nach einem Telefonat mit Erdogan so: „Er will noch immer etwas über die F-16-Jets aushandeln. Ich habe ihm gesagt: Wir wollen uns mit Schweden befassen, also lassen Sie uns das erledigen.“ Ein weiteres Gespräch ist für nächste Woche verabredet, danach dürfte klar sein, ob die Nato beim Gipfel Mitte Juli Schweden als neues Mitglied der Allianz begrüßen kann.

EU will Flüchtlingsabkommen mit der Türkei stabiler machen

Für Europa ebenso drängend ist die weitere Zusammenarbeit mit Erdogan bei der Steuerung von Flüchtlingsströmen. Fast vier Millionen Flüchtlinge vor allem aus Syrien werden in der Türkei versorgt, wofür die EU bislang zehn Milliarden Euro zugesagt und größtenteils auch schon ausgezahlt hat. Brüssel hat größtes Interesse, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu stabilisieren.

Beim ersten Gipfel der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft im Oktober 2022 in Prag stand der türkische Präsident Erdogan in der ersten Reihe (auf dem Bild 7. von rechts).
Beim ersten Gipfel der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft im Oktober 2022 in Prag stand der türkische Präsident Erdogan in der ersten Reihe (auf dem Bild 7. von rechts). © AFP | JOE KLAMAR

Deshalb war es in der EU-Hauptstadt mit Sorge gesehen worden, dass Oppositionsführer Kılıçdaroğlu eine Kehrtwende auch in der Migrationspolitik einleiten wollte: Die syrischen Flüchtlinge sollten zurück in ihre Heimat – in der Praxis wären viele dann wohl eher nach Europa weitergereist. Das ist ein Grund, warum EU-Diplomaten in Brüssel Erdogans Sieg auch Positives abgewinnen können.

Hinzu kommt: Hätte der Oppositionsführer gewonnen, wäre die EU jetzt mit großen Erwartungen konfrontiert, der neuen Regierung kräftig unter die Arme zu greifen – dabei hat sie kurzfristig gar nicht viel im Angebot. Vorstellbar als Zugeständnis und Anreiz an Ankara sind in Brüssel bislang allenfalls die Ausweitung der Visumfreiheit für Türken in der EU und eine Modernisierung der Zollunion.

Unwahrscheinlich bleibt ein Fortschritt im EU-Beitrittsprozess

Beim großen Thema Beitritt zur Europäischen Union ist Bewegung aber unabhängig vom Wahlausgang nicht in Sicht. Seit 2016, als Erdogan nach einem vereitelten Putschversuch die Zügel fest anzog und seine Macht zu einem autoritären Präsidialsystem ausbaute, liegen die vor fast zwei Jahrzehnten begonnenen Beitrittsverhandlungen auf Eis. Dass sie schnell wieder in Gang kommen, erwartet in Brüssel kaum jemand: Unabhängig von Erdogans Kurs ist in der EU jetzt die politische Energie auf die Aufnahme der Ukraine konzentriert, das schmälert auf lange Sicht die Aussichten für die Türkei.

EU-Parlament und einige Mitgliedstaaten wie Österreich fordern zwar schon seit geraumer Zeit, die Verhandlungen mit der Türkei offiziell zu beenden. Eine Mehrheit der EU-Staaten lehnt einen solchen Schnitt indes weiter ab, die EU-Kommission auch. Damit würde Brüssel die letzten Möglichkeiten der Einflussnahme aufgeben, warnt etwa Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Erdogan würde mit einer solchen Kündigung nur der Vorwand geliefert für eine noch schärfere Konfrontation mit der EU, heißt es in der Kommission. Dabei müsse die Union schon aus geostrategischen Gründen die Beziehungen zur Türkei wieder verbessern.

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