Berlin. Recep Tayyip Erdogan sichert sich seine dritte Amtszeit. Sein Wahlsieg könnte die Türkei tiefgreifender verändern als jemals zuvor.

Politisch war er schon oft totgesagt, doch immer wieder kam er zurück. Auch dieses Mal hat er es geschafft – entgegen vielen Prognosen, die ihn schon am Ende sahen. Recep Tayyip Erdogan hat die Stichwahl in der Türkei gewonnen und sich die dritte Amtszeit als Präsident gesichert. Laut vorläufigem Endergebnis konnte der Amtsinhaber 52,1 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Herausforderer Kilicdaroglu erreichte 47,9 Prozent.

Seit 20 Jahren lenkt Erdogan die Geschicke der Türkei. Kein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, dem „Vater der Türken“, hat länger regiert und das Land so stark geprägt wie Erdogan. Aber zugleich hat er die türkische Gesellschaft polarisiert und gespalten wie keiner vor ihm. Noch nie in der 100-jährigen Geschichte der türkischen Republik gab es so viele politische Gefangene wie unter Erdogan. Und noch nie waren die Medien so geknebelt und die Justiz so gegängelt wie zurzeit.

Erdogan hat früh gelernt zu kämpfen. Er wuchs im Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa als Sohn eines Seemanns auf. In Kasimpasa braucht man Ellenbogen und Fäuste, um sich durchzusetzen. Erdogan besserte sein Taschengeld mit dem Straßenverkauf von Limonade und Sesamkringeln auf. Eine hoffnungsvolle Karriere als Profifußballer musste er auf Geheiß des strengen Vaters aufgeben. Der schickte ihn auf ein islamisches Priestergymnasium. Mitschüler gaben ihm den Spitznamen „Koran-Nachtigall“ – weil er so schön aus dem heiligen Buch vorlesen konnte.

Türkei-Wahl: Erdogan gilt als Vater des türkischen Aufschwungs

Als Erdogan im November 2002 seine erste Parlamentswahl gewann, sahen viele in ihm einen Hoffnungsträger. Die Türkei begann sich damals gerade von der schwersten Finanzkrise ihrer jüngeren Geschichte zu erholen. Während der schweren Erdbeben-Katastrophe vom Sommer 1999 hatten Staat und Politiker total versagt.

Vor diesem düsteren Hintergrund strahlte der Stern des 48-jährigen Newcomers besonders hell. Vor allem in seiner Heimatstadt Istanbul, deren Oberbürgermeister er Mitte der 1990er-Jahre gewesen war, flogen ihm viele Herzen zu. Die Türkei erlebte in jenen Jahren ein Wirtschaftswunder: Im ersten Erdogan-Jahrzehnt verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen. Erdogans Popularität gründet sich bis heute auf die Erfolge dieser ersten Regierungsjahre. Er gilt als Vater des türkischen Aufschwungs.

Auch bei den westlichen Partnern erwarb sich der junge Politiker schnell Ansehen und Sympathien. Erdogan schaffte die Todesstrafe ab und beschnitt den Einfluss der bis dahin mächtigen Militärs. Mit seinen Reformen führte er die Türkei näher an Europa. 2004 wurde er in Berlin mit dem Quadriga-Preis als „Europäer des Jahres“ geehrt. Im Jahr darauf nahm die EU Beitrittsverhandlungen mit Ankara auf.

WahlTürkei-Wahl 2023
(Stichwahl)
DatumSonntag (28. Mai 2023)
OrtTürkei
Gewählt wirdPräsident
Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

Erdogan hat die schleichende Islamisierung der Türkei vorangetrieben

Doch unterschwellig trieb Erdogan längst seine eigentliche Agenda voran: die schleichende Islamisierung des Staates. Gemeinsam mit seinem damaligen Verbündeten, dem islamischen Prediger Fethullah Gülen, besetzte er die Schaltstellen in der Justiz, im Bildungswesen und im Sicherheitsapparat mit strenggläubigen Gefolgsleuten.

Als Gülen zu mächtig wurde, kam es 2013 zum Bruch. Erdogan ließ die Bildungseinrichtungen und Studentenheime der Gülen-Organisation in der Türkei schließen. Gülen rächte sich mit Korruptionsermittlungen, die er Ende 2013 von ihm nahestehenden Staatsanwälten und Ermittlern gegen Erdogan in Gang setzte. Heute sieht Erdogan in seinem einstigen Partner den Drahtzieher des Putschversuchs vom Juli 2016. Die Gülen-Bewegung gilt als Terrororganisation.

Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. © Jeff J Mitchell/Getty Images

Der Putschversuch lieferte Erdogan den Anlass für eine beispiellose Welle von „Säuberungen“: Mehr als 130.000 Beamte wurden wegen angeblicher Gülen-Verbindungen entlassen, Zehntausende Erdogan-Gegner kamen hinter Gitter. Hunderte Publikationen wurden verboten.

Türkei: Erdogans Machtfülle ist gewaltig, seine Außenpolitik aggressiv

Heute kontrollieren Erdogan-nahe Unternehmer mehr als 90 Prozent der türkischen Medien. Die Grundrechte wurden immer weiter eingeschränkt, die Gewaltenteilung ausgehebelt. Mit einer Verfassungsänderung sicherte sich Erdogan 2017 eine Machtfülle, wie sie kein anderer westlicher Staats- oder Regierungschef besitzt. Alle Fäden laufen in Erdogans Ak Saray zusammen, einem Prachtbau, größer als der Buckingham Palace.

Flankiert hat Erdogan seine zunehmende Macht im Inneren mit einer immer aggressiveren Außenpolitik. Er führte völkerrechtswidrige Kriege in Syrien, Libyen und dem Nordirak, drohte dem Nachbarn Griechenland mit Raketenangriffen auf Athen, warf Angela Merkel „Nazi-Methoden“ vor und empfahl dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen.

Die Folgen des schweren Erdbebens in der türkischen Provinz Hatay.
Die Folgen des schweren Erdbebens in der türkischen Provinz Hatay. © AFP | OZAN KOSE

Viele sahen den sieggewohnten Erdogan vor der Wahl in der Defensive geraten. Die Hyperinflation zehrte an den Einkommen der Menschen. Die verheerende Erdbeben-Serie von Anfang Februar, bei der mindestens 51.000 Menschen ums Leben kamen, zeigte nicht nur krasse Mängel bei den Rettungsdiensten. Sie offenbarten auch schwere Versäumnisse des Staates bei der Durchsetzung der Bauvorschriften.

Erdogan höchstpersönlich hatte in den vergangenen Jahren Hunderttausende Schwarzbauten mit Amnestien nachträglich genehmigt. Die engen Verbindungen des türkischen Staatschefs zu großen Bauunternehmen sind bekannt. Geschadet hat ihm das aber nicht wirklich. Gerade in der Erdbebenregion stimmten viele Menschen jetzt wieder für Erdogan – wohl in der Hoffnung, dass nur er als der „starke Mann“ der Türkei den Wiederaufbau hinbekommt.

Erdogan siegt bei der Stichwahl – Opposition stehen harte Zeiten bevor

Erdogan hat sich immer wieder als ein machtbewusster politischer Überlebenskünstler erwiesen. Das Verbotsverfahren gegen seine Partei vor dem türkischen Verfassungsgericht wegen „islamistischer Umtriebe“ überstand er 2008 ebenso wie die landesweiten Massendemonstrationen vom Frühjahr 2013, die wenige Monate später aufkommenden Korruptionsvorwürfe und den versuchten Militärputsch vom Juli 2016. Aus all diesen Krisen ging Erdogan gestärkt hervor. Für die Opposition beginnen nun noch härtere Zeiten. Erdogan wird seine Macht weiter zementieren und die Kritiker zum Schweigen bringen.

Mindestens bis 2028 wird er an der Staatsspitze stehen. Was danach kommt, ist ungewiss. Nach der Verfassung muss ein Präsident nach zwei Amtsperioden ausscheiden. Erdogan tritt nun bereits die dritte an. An deren Ende wird er 74 sein. Er versicherte jetzt seinen Anhängern, er bitte „ein letztes Mal“ um ein Mandat. Aber das heißt nicht, dass Erdogan in fünf Jahren tatsächlich abtritt.

Westliche Beobachter in Ankara schließen nicht aus, dass Erdogan versuchen wird, die Verfassung zu ändern. Mit der Absicht, sich die lebenslange Herrschaft zu sichern. Wie die Türkei am Ende aussehen wird, weiß heute niemand.

Die Folgen von Erdogans Wahlsieg dürften auch Deutschland und die EU spüren

Deutschland und die EU tun gut daran, sich auf eine neue Eiszeit einzustellen. Den Nato-Beitritt Schwedens hat Erdogan bisher blockiert. Er will damit von der Regierung in Stockholm eine schärfere Gangart gegen kurdische Exiltürken erzwingen, die der verbotenen Arbeiterpartei PKK nahestehen oder dort Mitglied sind. Ankara hatte dem skandinavischen Land vorgeworfen, ein sicherer Hafen für „Terroristen“ zu sein.

Schweden hat unter dem Druck der Türkei reagiert. Anfang Mai 2023 hatte das Parlament ein neues Anti-Terror-Gesetz verabschiedet. Das Gesetz kriminalisiert „die Beteiligung an einer terroristischen Organisation“ und wird am 1. Juni in Kraft treten. Erdogan wartet nun ab, wie rigoros die Schweden vorgehen und wie viele „Terroristen“ an die Türkei ausgeliefert werden.

Bundeskanzler Olaf Scholz und Recep Tayyip Erdogan.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Recep Tayyip Erdogan. © Guido Bergmann/Getty Images

Ob die Türkei Schwedens Mitgliedschaft im westlichen Bündnis noch vor dem Nato-Gipfel Mitte Juli zustimmen wird, gilt als zweifelhaft. In der Allianz rechnet man zumindest noch im Laufe dieses Jahres mit dem Ja in Ankara. Nur dann wird die Türkei die heißbegehrten F-16-Kampfflugzeuge der Amerikaner bekommen. Bislang lag die Lieferung der Jets im US-Kongress auf Eis.

Dennoch bleibt Erdogan für den Westen völlig unberechenbar. Nicht nur in der Flüchtlingsfrage hat der Präsident jederzeit einen Hebel in der Hand, um Europa unter Druck zu setzen. Rund vier Millionen Migranten hat die Türkei in den letzten Jahren aufgenommen. Wenn Erdogan „die Tore aufmacht“, wie er in der Vergangenheit immer wieder angedroht hatte, dürften sich viele auf den Weg nach Europa machen. Das Verhältnis zwischen Deutschland, der EU und der Türkei wird jetzt noch schwieriger.