Solingen/Berlin. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rügt die Verharmlosung rechter Strukturen. Innenministerin Faeser kritisiert die Kohl-Regierung

Anlässlich des 30. Jahrestages des ausländerfeindlichen Anschlags von Solingen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor einer Verharmlosung rechtsextremer Strukturen gewarnt. "Viel zu lange saß unser Land der durch nichts gestützten, aber ständig wiederholten Behauptung auf, es seien verblendete Einzeltäter, die ihr Unwesen treiben", sagte Steinmeier am Montag bei einer Gedenkveranstaltung in der Stadt im Bergischen Land.

Die Strukturen und die Ideologie der Täter seien lange ignoriert worden. "Ich spreche von Rechtsextremismus. Von Rassismus. Von Menschenfeindlichkeit", sagte der Bundespräsident. Rechtsextreme und Rassisten entmenschlichten den Einzelnen und verbreiteten damit Angst und Schrecken. "Ich nenne das: Terror. Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten hier in Solingen. Diesen rechten Terror gab es vor Solingen, und es gibt ihn nach Solingen."

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Rechter Terror in Deutschland: Anschlagsserie erschütter Nachwende-Deutschland

Am 29. Mai 1993 hatten vier Rechtsextremisten in Solingen das Haus einer türkischen Familie in Brand gesetzt. Bei dem nächtlichen Angriff starben fünf Mädchen und Frauen. Die Tat markierte den Höhepunkt einer ganzen Serie fremdenfeindlicher Verbrechen in der ersten Hälfte der 90er-Jahre in Deutschland. Der Anschlag rief weltweit Entsetzen hervor.

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Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) betonte, die Lehren aus Solingen könnten nicht aktueller sein. "Der Rechtsextremismus ist die größte extremistische Gefahr für unsere Demokratie – und für Menschen in unserem Land", sagte sie unserer Redaktion. Im vergangenen Jahr seien 41 Prozent aller Opfer politisch motivierter Gewalttaten von rechtsmotivierten Gewalttätern angegriffen worden. Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten sei im letzten Jahr erneut um zwölf Prozent gestiegen. Vor allem Attacken auf Geflüchtete hätten zugenommen.

Faeser versprach entschlossenes Handeln gegen Rechtsextremismus. "Dazu gehören gut ausgestattete und äußerst wachsame Sicherheitsbehörden auf der einen Seite, und eine lebendige und vielfältige Zivilgesellschaft auf der anderen Seite", sagte sie. "Und dazu gehört vor allem, anders als 1993: Empathie für die Betroffenen rechtsextremer Gewalt."

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Faeser: Damalige Bundesregierung hat keine rote Linie gezogen

Aus Sicht Faesers trägt die damalige Bundesregierung von Kanzler Helmut Kohl (CDU) eine Mitverantwortung für den Brandanschlag von Solingen. Dieser sei "keineswegs aus dem Nichts" gekommen "Nach den rechtsextremistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, nach dem Mordanschlag von Mölln nur kurz zuvor hat die damalige Bundesregierung nicht mit aller Klarheit und Deutlichkeit gehandelt, um den mörderischen Rechtsextremismus zu stoppen."

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Die Regierung aus CDU, CSU und FDP habe "dem Hass nichts entgegengesetzt, keine rote Linie gezogen", fügte Faeser hinzu. Debatten seien mit Sprüchen wie "Das Boot ist voll" auf dem Rücken von Menschen ausgetragen worden. "Und nach diesen Taten fehlten an der Spitze der Bundesregierung auch noch das Mitgefühl, die Empathie und Zuwendung für die Opfer." Das sei für den deutschen Staat bis heute beschämend.

Dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auch heute noch präsent seien, prangerte auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst im Rahmen der Gedenkveranstaltung an_ "Auch heute werden Menschen wegen ihrer Wurzeln, Kultur oder Religion ausgegrenzt, diskriminiert und angefeindet." Rassismus zeige sich von subtiler Alltagsdiskriminierung über Hetze im Netz bis hin zu Gewalttaten. Es gelte, sich rassistischer und rechtsextremer Propaganda entgegenzustellen und jeden Tag gemeinsam für ein respektvolles Miteinander einzustehen. (gau/afp/dpa)