Rom. Mit dem Tagebuch seines Großvaters sucht ein Bergsteiger nach den Leichnamen von Soldaten. Was er findet, gleicht einer Sensation.

Im Juni 1918 kam es im Tonale-Gebiet, an der Grenze zwischen Südtirol und dem damaligen Königreich Italien, zu heftigen Kämpfen zwischen Italienern und Österreichern. Kaiser Franz Josephs Truppen versuchten, diesen Teil der Front des Ersten Weltkriegs zu durchbrechen, um in die Lombardei einzudringen. Nach den Kämpfen begruben die Italiener fast 100 österreichische Soldaten. Zwölf davon wurden 2022 in Cima Cady auf über 2000 Meter Höhe geborgen, 82 Leichen werden noch gesucht.

Nach deren Grabstätte oberhalb des Tonale-Passes fahndet seit Jahren Sergio Boem, ein 59-jähriger Bergsteiger und Heimatforscher. Er ist der Enkel eines Offiziers im Ersten Weltkrieg, sein Name war Ubaldo Ingravalle. Der Bergsteiger hatte ein Tagebuch seines Opas mit Informationen über ein Massengrab mit Leichen Dutzender Soldaten entdeckt, die nahe dem Pass anlässlich der sogenannten „Operation Lawine“ am 13. Juni 1918 gefallen waren.

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Mit einer archäologischen Untersuchung konnten 2022 zwölf skelettierte Leichen oberhalb des Tonale-Passes an der Grenze zwischen dem Trentino und der Lombardei geborgen werden. Sein Großvater habe in den Tagebuchaufzeichnungen ausführlich über die Gewalt des Krieges berichtet, sagte Boem unserer Redaktion. Dass der Offizier den Bericht über das Massengrab nicht grundlos geschrieben haben konnte, habe er gewusst, erklärt der Forscher seine jahrelange Suche. „Die Erschöpfung und das Entsetzen nach diesem Kampftag müssen groß gewesen sein, und dennoch wollte Großvater persönlich über die überstürzte Beerdigung berichten. Das hatte er noch nie getan.“

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Boem blieb beharrlich. Schließlich konnte bewiesen werden, dass die Informationen des Großvaters tatsächlich zutrafen und sich in einem der Granatlöcher oberhalb des Tonale-Passes die Überreste gefallener Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee befanden.

Laut Boem sollte am Tonale-Pass, an der Grenze zwischen dem Trentino und der Lombardei auf lombardischem Boden, ein Massengrab mit weiteren 82 Leichen österreichischer Soldaten zu finden sein. Wie im Tagebuch angegeben, seien die Soldaten, vor allem Ungarn, Bosnier und Rumänen, in einem Massengrab mit einem Durchmesser von mindestens zwölf Metern verscharrt worden. „Ich empfinde es als moralische Pflicht, diesen Soldaten, die einst unsere Feinde waren, (...) einen Namen und ein würdiges Grab zu sichern. Es ist eine späte Entschädigung, die wir diesen jungen Menschen schuldig sind“, betont der 59-Jährige.

Nach den Untersuchungen des Forschers, die in dem Buch „Sui prati del Tonale 94 stelle alpine“ (auf Deutsch: „Auf den Wiesen des Tonals 94 Edelweiß“) zusammengefasst sind, handelt es sich bei dem Sammelgrab auf lombardischem Boden um eines der größten Massengräber des Ersten Weltkriegs. Der Autor, der am Gardasee lebt, recherchiert nun schon seit Jahren. Er stützt sich dabei auf das 1500 Seiten umfassende „Historische Tagebuch“ des italienischen Alpenbataillons Valcamonica des 5. Alpenregiments, das auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs eingesetzt wurde, darunter auch am Tonale-Pass. Boem hofft, dass die zuständigen Behörden nun im Frühjahr die notwendigen Untersuchungen durchführen werden, um das Massengrab zu finden.

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„Wir wollen verhindern, dass die Überreste der Soldaten Menschen in die Hände fallen, die in den Bergen auf der Suche nach Ausrüstungsgegenständen aus dem Ersten Weltkrieg sind, da diese bei Sammlern sehr begehrt sind“, berichtet Boem. Ein Helm von Soldaten des Ersten Weltkriegs wird im Internet für hohe Preise angeboten, ganze Märkte werden mit Gegenständen aus dem Ersten Weltkrieg organisiert.

Mithilfe zweier auf Militärrecht spezialisierter Anwälte, Mariapaola Marro und Carlo Stracquadaneo, bemüht sich Boem unermüdlich um die Aufnahme der Suche nach dem Massengrab. Die Überreste der zwölf bereits geborgenen Soldaten werden in der Stadt Trient aufbewahrt. Neben den Skeletten wurden auch Objekte der persönlichen Ausrüstung der Soldaten gefunden, darunter Steigeisen, Stiefel, Gasmaskentaschen, Werkzeuge und andere teils persönliche Gegenstände. Deren Zustand lässt aber nur wenig Hoffnung, dass die Identität der Gefallenen ermittelt werden kann.

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Die heikle Phase der Bergung und der archäologischen Untersuchung, die unmittelbar nach der Entdeckung 2022 begann, wurde vom Trentiner Landesamt für Archäologie in Abstimmung mit dem italienischen Verteidigungsministerium koordiniert. Dank einer Zusammenarbeit zwischen der Provinz Trient, dem Wissenschaftsmuseum Muse und der Universität von Durham arbeiten in Trient derzeit etwa 15 britische Experten in forensischer Anthropologie an dem Projekt. Die ersten Informationen über den Zustand der Skelette deuten u. a. auf Schädelverletzungen durch Kugeln hin, sowie auf Karies und Arthrose. Nach Abschluss der Untersuchungen werden die sterblichen Überreste der italienischen Gesellschaft zur Erhaltung der Kriegsgräber „Onorcaduti“ übergeben. Diese soll sie in Absprache mit dem Österreichischen Schwarzen Kreuz (ÖSK) in einem Soldatenfriedhof beisetzen.

Während des Ersten Weltkriegs kämpften die Soldaten auf den Gipfeln und Gletschern der Alpen. Es handelte sich um strategische Positionen, die als entscheidend für die Kontrolle über die Dolomiten-Täler betrachtet wurden.

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