Herzberg. „Rübergemacht mal andersherum“: Der Wahl-Silkeröder Ingmar Dalchow hielt einen Vortrag in der Zukunftswerkstatt Herzberg.

„Rübergemacht mal andersherum“ lautete der Titel eines Vortrags in der Zukunftswerkstatt über eine Gruppe junger Leute, die vor 25 Jahren – fünf Jahre nach der Grenzöffnung – beschlossen hatte, sich im 400-Seelen-Dorf Silkerode in Thüringen anzusiedeln. Vor interessiertem Publikum berichtete Ingmar Dalchow im Laden der Zukunftswerkstatt über seinen Lebensweg, der ihn von Süddeutschland über Südniedersachsen vor nunmehr 25 Jahren in das thüringische Dorf Silkerode führte, wo er für sich und seine Familie seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat.

Sein starkes Interesse an alten Obstbeständen habe sich schon zu Kindheitszeiten entwickelt und nie wieder losgelassen. Aufgewachsen in der Nähe vom Bodensee mit einer großen Obstwiese, leistete er seinen Zivildienst beim Nabu ab. Dort lernte er das Lohnmosten kennen, mit dem es gelang alte Streuobstwiesenbestände zu erhalten und ökologisch zu pflegen. Schon damals entwickelte sich daraus sein Berufswunsch eine Mosterei aufzubauen.

In den Semesterferien eine Mostanlage gekauft

Beim Studium in Freiburg traf er auf einen Gleichgesinnten: Christoph Böning-Spohr, gebürtiger Hilkeröder, der heute als Lehrer am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium diverse Umweltschulprojekte initiiert und begleitet, unter anderem auch die gemeinsam mit der Zukunftswerkstatt angelegte Streuobstwiese am Weinberg (wir berichteten). Mit dem ersten ersparten Geld von Obsternten in den Semesterferien kauften sich die beiden Freunde eine Mostanlage und begaben sich auf die Suche nach einer geeigneten Immobilie für ihr Traumprojekt.

Da ihnen „der Westen zu teuer“ war, starteten sie 1991 – also zwei Jahre nach der Grenzöffnung – im thüringischen Grenzort Zwinge. Die Produktion ließen sie langsam im Freundes- und Bekanntenkreis anlaufen, aber die Nachfrage entwickelte sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda so immens, dass sie nach zwei Jahren schon 5000 Liter produzierten. Ein glücklicher Zufall führte die beiden 1993 erstmalig nach Silkerode, wo sie bei einer LPG einen Reifen für einen Bauwagen kaufen wollten.

Dalchow erklärt Obstbaumschnitt auf der Streuobstwiese in Silkerode, einem Gemeinschaftsprojekt mit der Zukunftswerkstatt.
Dalchow erklärt Obstbaumschnitt auf der Streuobstwiese in Silkerode, einem Gemeinschaftsprojekt mit der Zukunftswerkstatt. © Scheidemann

Mitten im Ort stießen sie auf das ehemalige Gasthaus zum Deutschen Kaiser und führten eine Besichtigung in dem gut gepflegten Objekt durch. „Da ist mein Herz total aufgegangen“, schwärmt Dalchow noch heute. Schnell stand der Entschluss fest, den Gebäudekomplex zu erwerben und dort eine Mosterei und eine Lebensgemeinschaft aufzubauen.

Um diesen Traum zu realisieren, mussten sie jedoch einen Kredit aufnehmen. Als Ökos kam für sie nur eine umweltbewusste Bank in Frage. Sie stellten einen Projektantrag bei der Ökobank, der zu ihrer Überraschung bereits nach drei Wochen genehmigt wurde. In 1994 lief die Obstsaftproduktion in Silkerode erfolgreich an. Zwei langjährige Freunde, Moni und Christoph, die gerade ihre Gärtnerausbildung absolviert hatten, schlossen sich der neugegründeten Lebensgemeinschaft an, kauften Ländereien im Dorf und bauten eine ertragreiche Bio-Gärtnerei auf, die mit einem Marktstand in Göttingen, einem Hofladen und mehr als 60 Bio-Kästen viele Menschen der Region mit Bio-Gemüse versorgt.

Von großem Interesse war es für die Anwesenden zu erfahren, wie die einheimischen Silkeröder auf die Öko-Gemeinschaft reagiert haben. „Die waren von Anfang an offen uns gegenüber und haben uns ganz viel Unterstützung gegeben“, erinnert sich Ingmar Dalchow gerne. „Es kam gut an, dass wir die Ärmel hochgekrempelt und gleich losgelegt haben. Beim Lagerfeuer am Abend kamen oft Nachbarn hinzu, um mal zu gucken, was wir so machen.“

Sich gegenseitig auszuhelfen, war in diesem 400-Seelen-Dorf, das zu dem Zeitpunkt nur fünf Telefone besaß und Handys noch nicht zur Verfügung standen, selbstverständlich. Die neue Lebensgemeinschaft brachte sich aber auch aktiv in das Gemeinschaftsleben zum Wohle des Ortes ein. Sieben Jahre lang wirkte Dalchow im Gemeinderat mit, gemeinsam gelang es eine Schilfkläranlage für Silkerode zu bekommen, wodurch erhebliche Kosten eingespart werden konnten.

Nach Schließung der örtlichen Grundschule, die auch durch eine aktive Elterninitiative mit über 50 Mitgliedern nicht verhindert werden konnte, gelang es eine Freie Schule aufzubauen, in der die Kinder weiterhin vor Ort unterrichtet werden konnten. Mittlerweile sind die Kinder der Öko-Familien dem Grundschulalter entwachsen, die Freie Schule musste aufgrund des Lehrermangels geschlossen werden.

Vor 25 Jahren – fünf Jahre nach der Grenzöffnung – beschloss eine Gruppe junger Leute sich in dem 400-Seelen-Dorf Silkerode/Thüringen anzusiedeln. Ingmar Dalchow, Inhaber der Mosterei Malus (3.v.r.), berichtete im Rahmen des Erzähl-Cafés der Zukunftswerkstatt über ihr Sesshaftwerden im ehemaligen Sperrgebiet.
Vor 25 Jahren – fünf Jahre nach der Grenzöffnung – beschloss eine Gruppe junger Leute sich in dem 400-Seelen-Dorf Silkerode/Thüringen anzusiedeln. Ingmar Dalchow, Inhaber der Mosterei Malus (3.v.r.), berichtete im Rahmen des Erzähl-Cafés der Zukunftswerkstatt über ihr Sesshaftwerden im ehemaligen Sperrgebiet. © HK | Paul Beier

Wie wird es zukünftig für die Lebensgemeinschaft in Silkerode weiter gehen? Dalchow schaut optimistisch in die Zukunft und – tatkräftig wie er ist – überlässt er auch die Weiterentwicklung nicht dem Zufall. Auf der Suche nach Nachfolgern für seine Mosterei ist er fündig geworden, ein junges Paar – Jenny und David, aufgewachsen bei Leipzig, wohnhaft in Nordrhein-Westfalen – werden im März nach Silkerode überwechseln und von Ingmar in die Leitung der Mosterei eingearbeitet.

Die Vortragsveranstaltung fand im Rahmen des aktuellen Projekts der Engagierten Stadt Herzberg „Miteinander weiter entwickeln – 30 Jahre Friedliche Revolution – 30 Jahre Deutsche Einheit“ statt und wurde unterstützt durch das Bundesministerium für Familie, Jugend, Frauen und Senioren.