Göttingen. Was dem Göttinger Publikum gefiel, stieß bei Goethes Zeitgenossen auf wenig Verständnis.

Nach der Premiere „Der goldne Topf“ aus der Feder von E.T.A. Hoffmann (wir berichteten) stand mit „Die Wahlverwandtschaften“ noch eine weitere auf dem Spielplan des Jungen Theaters, bevor es für das Theater in den Lockdown ging. Der Roman aus der Feder von Johann Wolfgang von Goethe erschien wenige Jahre vor Hoffmanns Werk und stieß damals auf wenig Verständnis bei seinen Zeitgenossen. Von einem Skandal war die Rede. Ganz anders waren da die Reaktionen des Göttinger Publikums auf die Inszenierung im Jungen Theater.

Die Inszenierung von Stephan Schäfer brachte auf ganz unkonventionelle Weise das Stück als ein Experiment auf die Bühne. So ist auch zu verstehen, warum die vier Schauspieler Minuten vor dem eigentlichen Vorstellungsbeginn in weißen Kitteln und mit Handschuhen bekleidet die Bühne betraten, um dort scheinbar zu putzen, zu kontrollieren oder sich Notizen, wie für ein Versuchsprotokoll, zu machen: „Wir haben uns bewusst auf die vier Figuren Charlotte, Eduard, Hauptmann Otto und Charlottes junge Nichte Ottilie konzentriert. Die Fassung von Stefan Bachmann und Lars-Ole Walburg wurde mir empfohlen, weil sie wie ein Skalpell nur das Notwendige aus der Romanvorlage herausschneidet. Die Bühne stellt dabei die Assoziation eines Labors dar, wo dieses Experiment stattfindet, denn Theater ist immer auch ein Experiment. Der Stoff selbst wird auf zwei Ebenen gespielt. Er enthält einerseits die Erzählung beziehungsweise Handlung an sich, andererseits quasi eine Laboruntersuchung, die von außen beleuchtet, wie es zu den unglücklichen Umständen, die im Roman passieren, kommen konnte. Die augenblickliche Pandemie-Situation passte auf die Laborszenen gut“, erklärte Stephan Schäfer.

In jedem guten Roman geht es um die Liebe und den Tod – das erklärte einst Marcel Reich-Ranicki. So auch in „Die Wahlverwandtschaften“. Der Titel spiegelt ganz nebenbei Goethes Begeisterung für die Naturwissenschaften wider, die im Text oft thematisiert werden. Der Begriff der Wahlverwandtschaften ist aus der Chemie entnommen. Er beschreibt einen Vorgang, der eintreten kann, wenn zwei chemische Verbindungen zusammentreffen. Bei ausreichend starker Wesensverwandtschaft lösen sich die Bestandteile dieser Verbindungen voneinander, um sich mit einem freigewordenen Partner der anderen Verbindung auf ein Neues zu vereinigen.

Goethe untersucht im Prinzip, inwieweit seine vier Hauptpersonen aufgrund naturgesetzlicher Notwendigkeiten oder aus freien Willensentscheidungen heraus handeln. Er war davon überzeugt, dass alle Erscheinungen der belebten Natur miteinander in Verbindung stünden.

Aus dem Inhalt des Stücks

Charlotte und Eduard (Jacqueline Sophie Mendel und Michael Johannes Mayer) bekommen Besuch in ihrer Eheidylle: Eduards alter Freund Hauptmann Otto und Charlottes Nichte Ottilie (Jan Reinartz und Jennifer Quast). Sehr schnell werden die scheinbar gefestigten Emotionen heftig durcheinandergeschüttelt – Charlotte verliebt sich in Otto, Eduard in Ottilie. Keiner weiß mehr, was richtig oder falsch ist: Hingabe oder Enthaltsamkeit? Was zählt mehr, das Herz oder die bürgerliche Moral, die körperliche Anziehung oder das Lebenskonzept, Wahrheit oder Lüge, Erotik oder Vernunft?

Goethe ließ in seinem Skandalroman vier unterschiedliche Charaktere aufeinandertreffen und miteinander reagieren. Ein gesellschaftliches Experiment rund um das Zusammenleben, Beziehungen und Liebe mit tödlichem Ausgang. Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung – so steht es im Roman geschrieben. Diese Leidenschaften brachten alle vier Darsteller mit viel Gestik genau auf den Punkt – auch, oder vielleicht gerade weil es ihnen coronabedingt nicht möglich war, sich zu umarmen oder zu berühren.

„Manchmal hätte ich gerne in die Kulisse gebissen, weil eben vieles einfach nicht wie gewohnt darstellbar war. Es mussten passende Übersetzungen gefunden werden, das war schon streckenweise hart“, berichtete Stephan Schäfer. Übersetzungen, die jedoch vom Publikum verstanden und entsprechend mit viel Beifall honoriert wurden. Es wurde auf der Bühne geliebt, geschrien, gelacht, ver- und gezweifelt – eine schauspielerische Leistung des Vierer-Ensembles voller Leidenschaft, an der Johann Wolfgang von Goethe seine Freude gehabt hätte.