Goslar . Russland-Expertin Katja Gloger war für einen Vortrag zu Gast in Goslar. Im Interview spricht sie über Strategien und Herausforderungen Russlands.

Russland und seine lange, wechselvolle Beziehung zu Deutschland – das war das Thema, über das Katja Gloger beim Frankenberger Winterabend in Goslar sprach. Die Journalistin hat selbst lange Zeit als Korrespondentin in dem Land gearbeitet, gilt als Expertin für Russland. Im Interview mit Marieke Düber gibt Gloger einen Einblick in die politischen Strategien, spricht über soziale Ungleichheiten und auch über ihre Erfahrungen als Journalistin dort.

Frau Gloger, wie ist das aktuelle politische Verhältnis zwischen dem Westen und Russland?

Wladimir Putin hatte ein erklärtes strategisches Ziel, als er vor mehr als 18 Jahren die Macht in Russland übernommen hat. Es galt, das in der Wahrnehmung vieler Menschen in Russland gedemütigte, vom Westen drangsalierte Russland wieder von seinen „Knien“ zu erheben. Anfangs versuchte der russische Präsident, dieses Ziel durch eine gewisse Annäherung durch wirtschaftliche Kooperation vor allem mit Deutschland zu erreichen. Das hat aus russischer Sicht nicht funktioniert. Vielmehr fühlte man sich zunehmend an den Rand Europas gedrängt, durch die USA und die Nato-Osterweiterung gar bedroht. In diesem langen Prozess der zunehmenden Entfremdung und des wachsenden Misstrauens wurden von beiden Seiten Fehler gemacht. Seit 2012, nach den Protesten gegen Putin und gefälschte Wahlen, erleben wir außerdem eine zunehmend aggressivere Außenpolitik, die auch mit militärischen Mitteln ausgefochten wird, wie die Annexion der Krim und der Krieg im Osten der Ukraine zeigen.

Aber auch moderne Mittel wie Cyberangriffe, Trolle und Desinformation werden eingesetzt, um zunehmend Unfrieden in ohnehin geschwächten Demokratien des Westens zu stiften. Die Einmischung in den US-Wahlkampf zeigt das nahezu beispielhaft.

Ist diese aggressivere Außenpolitik eine Strategie Wladimir Putins?

Ein Pfeiler in der außenpolitischen Strategie des Systems Putin sind die sogenannten Zonen „privilegierten Interesses“, klassische Einflusszonen: Dazu gehören vor allem die unabhängigen Staaten in direkter Nachbarschaft zu Russland, der sogenannte postsowjetische Raum. Aber die Großmacht Russland versucht auch, in anderen Teilen der Welt Einfluss und Macht zu gewinnen, etwa in Syrien und mittlerweile auch in Afrika.

Putins Welt ist eine multipolare Welt ohne feste Regeln und ohne Normen, eine neue Ordnung, in der die Starken, Großmächte wie die USA, China und eben Russland, ihre Interessen durchsetzen – im Zweifel auch auf Kosten der Kleinen, der Schwächeren. Der Westen, so hört man es in Russland immer wieder, hat ausgedient, ist auf dem Rückzug. Zugleich aber ist diese neue russische Großmacht ein Koloss auf tönernen Füßen. Das zeigt auch die ökonomische Entwicklung des Landes.

Welche Entwicklungen sind das genau?

Viele Ökonomen auch in Russland befürchten wirtschaftliche Stagnation, in der das Land immer weiter den Anschluss an Innovationen in einer globalisierten, zunehmend vernetzten Welt verliert. Eigentlich weiß man auch im Kreml, dass Russland dringend Reformen im sozialen und ökonomischen Bereich braucht. Der Export von Rohstoffen wie Gas und Öl allein reicht eben nicht aus. Das Land steckt in einer Modernisierungsblockade. Die soziale Lage ist bei Weitem nicht so gut, wie die glitzernden Fassaden von Moskau und Sankt Petersburg suggerieren wollen. Reformen wie etwa der Aufbau eines Rechtsstaates können aber schnell eine Bedrohung für das System werden – ein Teufelskreis.

Versucht Russland, ein von der Realität abweichendes Bild nach außen zu projizieren?

Wer heute nach Moskau fährt, erlebt eine boomende, glänzende Stadt von hoher Lebensqualität, die es mit jeder Stadt im Westen aufnehmen kann. Nur 100 Kilometer vom smarten, neuen Moskau entfernt aber sieht es schon ganz anders aus: Die Durchschnittseinkommen sinken, die Menschen haben Angst vor Arbeitslosigkeit, die soziale Lage ist vergleichsweise angespannt. Die jüngsten Proteste gegen die Rentenreform zeigen das. Viele Menschen verlieren den Glauben an eine bessere Zukunft.

Kommen wir noch einmal zurück zu einem speziellen Fall der Außenpolitik, zum INF-Abkommen über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen zwischen USA und Russland. Die Nato wirft Russland den Bruch des Abkommens vor, US-Präsident Trump hat den Ausstieg aus dem Abkommen angekündigt. Wird Russland der Aufforderung der Nato nachkommen und die mutmaßlich entwickelten Waffen vernichten?

Das INF-Abkommen war und ist ein historisches Abkommen. Nicht nur, weil es von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan geschlossen wurde, zwei Männern, von denen man anfangs nicht glaubte, dass sie gegenseitiges Vertrauen entwickeln könnten. Sondern auch, weil es das erste und einzige echte nukleare Abrüstungsabkommen ist: Eine ganze Waffengattung wurde tatsächliche vernichtet, begleitet von vertrauensbildenden Maßnahmen. Und dadurch wurde eine große Gefahr für Europa abgewendet, das in einer möglichen militärischen Auseinandersetzung zum Schlachtfeld geworden wäre – allen voran das damals noch geteilte Deutschland, Frontlinie im Kalten Krieg.

In der Kaskade gegenseitiger Vorwürfe ist die Auseinandersetzung über das INF-Abkommen aber nur der jüngste Schritt. Insgesamt scheint Rüstungskontrolle den beiden nuklearen Supermächten nicht mehr so wichtig zu sein. Deswegen müssen wir als Europäer Russland und auch die USA dazu auffordern, alles zu tun, um das Abkommen zu erhalten. Sonst droht eine neue Rüstungsspirale auch im nuklearen Bereich. Leider aber scheint es so zu sein, dass weder Russland noch die USA ein echtes Interesse am Erhalt des INF-Abkommens haben. Womöglich auch, weil beide mehr militärischen Spielraum gegenüber China haben wollen, der aufsteigenden Supermacht.

Sprechen wir zum Schluss noch über den Fall Claas Relotius, den ehemalige Spiegel-Redakteur, der viele seiner Geschichten teilweise oder sogar komplett erfunden hat. Hat dieser Vorfall dem Journalismus nachhaltig Schaden zugefügt?

Journalismus und Journalisten stecken seit Jahren in einer Glaubwürdigkeitskrise. Je stärker rechtspopulistische Bewegungen werden, desto mehr geraten auch die Medien unter Druck – nicht nur in Deutschland mit der AfD. Die Medien werden als Teil des Systems angesehen, angebliche Befehlsempfänger der herrschenden Elite: die „Lügenpresse“ eben. Ein schlimmer und falscher Vorwurf, der auf die allermeisten Medien und Journalisten nicht zutrifft. Und doch haben wir, die Journalisten, allen Anlass zur Selbstkritik. Niemand ist fehlerfrei. Wir sind oft schnell darin, Fehler und Fehlverhalten anderer anzuprangern. Eine neue Fehlerkultur und viel mehr Transparenz über unser Tun halte ich im Journalismus für unabdingbar, um Vertrauen zurückzugewinnen. Vielleicht auch durch unabhängige Ombudsfrauen und -männer in den Redaktionen, an die man sich mit Fragen und Kritik wenden kann.

Natürlich schadet der Fall Claas Relotius der Glaubwürdigkeit der Journalisten. Es ist aber begrüßenswert, dass der Spiegel mit aller Konsequenz ermitteln und mögliche Fehler im System aufdecken will. Man muss daraus lernen – nicht nur die betroffene Redaktion, sondern ebenso jeder Journalist für sich. Und im Zweifel Verantwortung übernehmen.