Ankara. Einst galt Recep Tayyip Erdogan als Hoffnungsträger. Die Herzen flogen ihm zu. Inzwischen wird er in der Türkei vor allem gefürchtet.

Als Recep Tayyip Erdogan im November 2002 seine erste Parlamentswahl gewann, sahen viele in ihm einen Hoffnungsträger. Die Türkei begann sich damals gerade von der schwersten Finanzkrise ihrer jüngeren Geschichte zu erholen. Vor diesem düsteren Hintergrund strahlte der Stern des 48-jährigen Newcomers besonders hell. Vor allem in seiner Heimatstadt Istanbul, deren Oberbürgermeister er Mitte der 1990er Jahre gewesen war, flogen ihm viele Herzen zu.

Auch bei den westlichen Partnern erwarb sich der junge Politiker schnell Ansehen und Sympathien. Die Türkei erlebte in jenen Jahren ein Wirtschaftswunder: Im ersten Erdogan-Jahrzehnt verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen. Erdogan schaffte die Todesstrafe ab und beschnitt den Einfluss des bis dahin mächtigen Militärs.

WahlTürkei-Wahl 2023
(Stichwahl)
DatumSonntag (28. Mai 2023)
OrtTürkei
Gewählt wirdPräsident
Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

Mit seinen Reformen führte er die Türkei näher an Europa heran. 2004 wurde er in Berlin mit dem Quadriga-Preis als „Europäer des Jahres“ geehrt. Im Jahr darauf nahm die EU Beitrittsverhandlungen mit Ankara auf. Doch unterschwellig trieb Erdogan längst seine eigentliche Agenda voran: die schleichende Islamisierung des Staates.

Prediger Gülen – vom Gefolgsmann zum Gejagten

Gemeinsam mit seinem damaligen Verbündeten, dem islamischen Prediger Fethullah Gülen, besetzte er die Schaltstellen in der Justiz, im Bildungswesen und im Sicherheitsapparat mit strenggläubigen Gefolgsleuten. Als Gülen zu mächtig wurde, kam es 2013 zum Bruch. Heute sieht Erdogan in seinem einstigen Partner den Drahtzieher des Putschversuchs vom Juli 2016. Die Gülen-Bewegung gilt als Terrororganisation.

Er wurde oft politisch totgesagt: Präsident Recep Tayyip Erdogan hielt sich dennoch 20 Jahre im Amt.
Er wurde oft politisch totgesagt: Präsident Recep Tayyip Erdogan hielt sich dennoch 20 Jahre im Amt. © AFP | ADEM ALTAN

Der Putschversuch lieferte Erdogan den Anlass für eine beispiellose Welle von „Säuberungen“: Mehr als 130.000 Beamte wurden wegen angeblicher Gülen-Verbindungen entlassen, Zehntausende Erdogan-Gegner kamen hinter Gitter. Hunderte Publikationen wurden verboten. Heute kontrollieren Erdogan-nahe Unternehmer über 90 Prozent der türkischen Medien.

Die Grundrechte wurden immer weiter eingeschränkt, die Gewaltenteilung ausgehebelt. Mit einer Verfassungsänderung sicherte sich Erdogan 2017 eine Machtfülle, wie sie kein anderer westlicher Staats- oder Regierungschef besitzt. Alle Fäden laufen in Erdogans Ak Saray zusammen – einem Prachtbau, noch größer als der Buckingham Palace in London.

Doch der erfolgsverwöhnte Erdogan ist in die Defensive geraten. Ein Grund ist die Hyperinflation; sie zehrt an den Einkommen der Menschen. Ein weitere Grund ist das chaotische Krisenmanagement nach der schweren Erdbebenkatastrophe, die Anfang Februar über 50.800 Todesopfer forderte.

Sein sozialdemokratischer Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu ist ihm dicht auf den Fersen. Der Oppositionsführer konnte Erdogan zwar nicht im ersten Wahlgang stürzen und landete mit 44,79 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz hinter dem Präsidenten (49,49 Prozent). Nun geht es für die beiden in die Stichwahl. Unterschätzen sollte man den türkischen Staatschef nicht. Er wurde oft politisch totgesagt, hat sich aber stets als Überlebenskünstler erwiesen.