Ankara. Die Südosttürkei ist vom Erdbeben schwer getroffen. Die Katastrophe könnte die Wahl am Sonntag entscheiden – auch zum Vorteil Erdogans.

Im Westen der Türkei machen Politiker Wahlkampf, im Südosten Anatoliens kämpfen Millionen Menschen ums tägliche Überleben. Fast 100 Tage nach der Erdbebenkatastrophe warten sie immer noch auf eine menschenwürdige Unterkunft und eine Zukunftsperspektive. Das am schwersten zerstörte Antakya, in der römischen Antike als Antiochia nach Rom und Alexandria die drittgrößte Metropole der Welt, gleicht heute einer Geisterstadt.

Soldaten patrouillieren zwischen den Ruinen in den fast menschenleeren Straßen. Die meisten Obdachlosen hausen in zugigen Zelten, ohne fließendes Wasser. Es fehlt an Toiletten und Waschgelegenheiten. Nur wenige Obdachlose sind bisher in beheizbaren Wohncontainern untergekommen. Bei der Vergabe der Container seien Anhänger von Staatschef Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierungspartei AKP bevorzugt worden, klagen Oppositionspolitiker.

WahlTürkei-Wahl 2023
(Stichwahl)
DatumSonntag (28. Mai 2023)
OrtTürkei
Gewählt wirdPräsident
Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

Am Sonntag sollen die Menschen in der Katastrophenregion, wie der ganzen Türkei, zur Wahl gehen. Im Erdbebengebiet lebten einst neun Millionen Wahlberechtigte. Die betroffenen Provinzen entsenden 96 der 600 Abgeordneten ins Parlament. „Die Situation der Menschen in den erdbebengeschädigten Gebieten ist immer noch katastrophal“, berichtete vergangene Woche die Hilfsorganisation Care.

Erdogan hatte Schwarzbauten nachträglich genehmigt

Mehrere Erdbeben richtete in einem Umkreis von 400 Kilometern schwere Zerstörungen an. Nach Angaben des Ministeriums für Umwelt und Städtebau stürzten 230.000 Gebäude mit 520.000 Wohneinheiten komplett ein oder wurden so schwer beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gestikuliert bei einer politischen Kundgebung am Atatürk-Flughafen in Istanbul.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gestikuliert bei einer politischen Kundgebung am Atatürk-Flughafen in Istanbul. © dpa | -

Das Beben offenbarte nicht nur die Schwächen des Ein-Mann-Systems Erdogan – Hilfsorganisationen und die Armee warteten lange vergeblich auf Weisungen des Staatschefs. Das Desaster zeigte auch, welches Ausmaß Korruption und Vetternwirtschaft unter Erdogan angenommen haben.

Der Staatschef höchstpersönlich hatte in den vergangenen Jahren mit Amnestien hunderttausende Schwarzbauten nachträglich genehmigt und sich dessen auch noch gebrüstet. Viele waren von regierungsnahen Bauunternehmern unter Umgehung der Bauvorschriften errichtet worden. Jetzt stürzten zahlreiche dieser Gebäude ein – und begruben ihre Bewohner unter sich.

Viele Wahlberechtigte haben die Katastrophenregion verlassen

Viele Gebäude, die früher als Wahllokale benutzt wurden, sind zerstört. Die Regierung hat deshalb Container aufstellen lassen, in denen abgestimmt wird. Aber die meisten Wahlberechtigten dürften Schwierigkeiten haben, überhaupt ihre Stimme abzugeben. Rund 3,7 Millionen Menschen haben nach den Erdbeben die Katastrophenregion verlassen, so offizielle Schätzungen der Behörden. Viele sind bei Freunden und Verwandten in anderen Landesteilen untergekommen.

Von diesen Geflüchteten haben sich aber bisher nur etwa 130.000 an ihren neuen Wohnsitzen angemeldet und sind dort auch wahlberechtigt. Die Frist zur Anmeldung ist bereits am 17. März abgelaufen. Alle anderen müssten in ihre zerstörten Heimatorte reisen, um abzustimmen. Den meisten werden die Mittel und Möglichkeiten dazu fehlen.

Opposition: Wähler werden systematisch an der Anreise gehindert

Erdogan und seiner Regierungspartei AKP dürfte es entgegenkommen, wenn viele Vertriebene am Sonntag ihre Stimme nicht abgeben. Denn sie sind potenzielle Protestwähler. Drei Bezirke der von den Erdbeben besonders stark verwüsteten Provinz Hatay – Arsuz, Samandag und Defne – sind traditionell Hochburgen der Opposition. Dort erreichte die CHP bei den Wahlen 2018 Stimmenanteile von 58 bis 63 Prozent.

Weil die Landebahn des Flughafens Hatay seit dem Beben nicht mehr in voller Länge nutzbar ist, hat die staatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines jetzt alle Flüge storniert – aus Sicherheitsgründen, wie es offiziell heißt. Oppositionspolitiker halten das für einen Vorwand, um Wähler an der Anreise zu hindern. Die CHP ist daran interessiert, dass die Geflüchteten ihre Stimme abgeben können. Sie will deshalb am Wahltag Menschen mit Bussen zu den Wahllokalen in ihre zerstörten Heimatorte bringen.