Lindau . Der Mordprozess um eine zerstückelte Leiche vor dem Landgericht Göttingen bringt viel Obskures zutage.

Seit rund vier Monaten verhandelt das Landgericht Göttingen über einen ungewöhnlichen Mord. Ein 27-jähriger Mann aus Landsberg am Lech ist angeklagt, im Dezember 2017 an seinem Wohnort in Katlenburg-Lindau einen 37-jährigen Hausnachbarn erdrosselt zu haben. Später soll er die Leiche zerstückelt und gemeinsam mit einem anderen Mitbewohner vergraben haben.

Inzwischen hat das Gericht nicht nur viele Zeugen, sondern auch viel Gruseliges gehört: Der Angeklagte gehörte ebenso wie mehrere andere Hausbewohner einer obskuren Vereinigung an, die ihr Vermieter initiiert hatte. Dieser hatte gezielt esoterisch Interessierte als Mieter angeworben. Das Gebäude wurde so zu einer Art Geisterhaus, in dem okkultistische Handlungen und Rituale praktiziert wurden.

Die Umtriebe standen in starkem Kontrast zu der vorherigen Nutzung: Das Gebäude war vorher als Gästehaus für Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung genutzt worden, die mit rationalen Methoden den Geheimnissen des Universums auf die Spur zu kommen versuchen. Nachdem das Institut 2014 in die Universitätsstadt Göttingen umgezogen war, kaufte ein 31-Jähriger aus dem Raum Hildesheim das leerstehende Gebäude. Gleichzeitig betätigte sich der neue Besitzer der Immobilie als selbst ernannter Sprecher des „Deutschen Hüterordens“. Dem mit düsteren Videos untermalten Internet-Auftritt zufolge sollte sich dahinter eine „besondere und geheimnisvolle Gemeinschaft“ verbergen. Folgt man den Aussagen einiger früherer Hausbewohner, verband der 31-Jährige mit seinem „Geheimbund“ indes offenbar auch eine ganz profane Geschäftsidee. Interessenten, die sich von dem Mix aus Mystik, Okkultismus, Germanen-Gedöns und Verschwörungstheorien angezogen fühlten, animierte er dazu, nicht nur dem „Orden“ beizutreten, sondern auch eine Wohnung zu nehmen.

Nach und nach zogen allein lebende Männer aus ganz Deutschland in den Ort. Einige – wie das spätere Opfer – suchten nur eine billige Wohnung, andere nach Gleichgesinnten. Wer Mitglied im Orden werden wollte, musste verschiedene Aufnahmerituale durchlaufen.

Ein in Celle stationierter Bundeswehrsoldat, der trotz der Entfernung ins mehr als 100 Kilometer entfernte Lindau gezogen war, berichtete, dass man verschiedene Stationen vom Keller bis zum Dachgeschoss durchlaufen musste. Mit der Aufnahme bekam jeder einen Ordensnamen.

Der 31-jährige Initiator trat unter dem Namen „Kronum“ auf, der wohl seine höhere Stellung dokumentieren sollte. Ein 23-Jähriger, der anfangs von der Germanen-Mystik angetan war, nannte sich „Polarwolf“. Später habe ihn der Orden aber nicht mehr interessiert, weil andere Sachen im Vordergrund gestanden hätten, erklärte er vor Gericht. Wegen dieser „anderen Sachen“ rückte zweimal ein Sondereinsatzkommando der Polizei in dem Haus an. Einige Monate nach dem ersten SEK-Einsatz verurteilte das Landgericht Braunschweig den 23-Jährigen, der sich in dem Prozess als überzeugter Nationalsozialist ausgab, wegen Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Aktuell ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts der Gründung einer rechtsterroristischen Vereinigung.

Der Vermieter betrieb auch einen okkulten Online-Shop. Ein Ex-Hausbewohner berichtete, dass sie für die Internet-Präsentation im Keller einen Altar hergerichtet hätten, auf dem man die Produkte drapiert habe – „kein hochwertiges Zeugs“, sondern „krasse Dinge“ wie ein Totenkopf für mehrere tausend Euro oder Schriftrollen mit Runen- oder Keilschrift. Die Polizei fand im Zuge ihrer Ermittlungen heraus, dass ein dem Orden angehörender Metzger aus Sachsen-Anhalt die Pergamentrollen hergestellt hatte. Mehrere Zeugen berichteten, dass der Vermieter ihnen nahegelegt habe, diese Pergamentrollen zu kaufen, um diese dann bei den entsprechenden Zeremonien als „Opfergabe“ zu verbrennen.

Ein 33-Jähriger aus Baden-Württemberg hatte anfangs an einem Treffen mit anderen Ordensinteressierten in Thale im Harz teilgenommen. Dort hätten sie auf dem Hexentanzplatz und anderen mystischen Orten Spaziergänge „in der Vergangenheit von tausenden von Jahren“ unternommen. Er sei fasziniert gewesen von dem Aufnahmeritual, bei dem sie mit Fackeln im dunklen Wald einen „Schwur vor der Gottheit“ geleistet hätten: „Es gab ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl, das ich noch nie in meinem Leben hatte.“ Nachdem er in das Haus gezogen war, sei aus dem Gemeinschaftsgefühl ein Alptraum geworden. Die Geisteranrufungen bei den Séancen, die maskierten und in dunkle Roben gekleideten Ordensmitglieder, die angsteinflößenden Geschichten über verärgerte Gottheiten – all das habe bei ihm einen Horrorflash ausgelöst, der in einen Suizidversuch mündete.

Vor allem der Angeklagte, der immer eine Puppe herumtrug, habe ihm große Angst gemacht: „Für mich war es das Geisterhaus schlechthin“, sagte der 33-Jährige. Die mysteriöse Puppe trug den Namen Anneliese und war offenbar von großer Bedeutung für den Angeklagten. Die Ermittler vermuten, dass der Name mit einem Aufsehen erregenden Exorzismusfall in Zusammenhang steht. 1976 war die Studentin Anneliese Michel nach Teufelsaustreibungen durch katholische Priester gestorben.

Der Angeklagte soll nach dem Mord in Lindau gegenüber einem Mitbewohner geäußert haben, dass es ein erhabenes Gefühl gewesen sei, einen Menschen sterben zu sehen und zu erleben, wie die Seele den Körper verlasse. „Ich hab’s endlich getan“, habe er erklärt. Bei der Bergung der Leiche stellten die Ermittler fest, dass die Oberarme und ein Oberschenkel fehlten. Auch das Messer, mit dem die Leiche akkurat zerteilt wurde, ist verschwunden, ebenso die mysteriöse Puppe.

Am 7. Juni sollen die Plädoyers stattfinden, das Urteil ist für die Woche darauf geplant.