Kabul. Angst vor den Taliban, dazu die große Not: Jeden Tag wollen Tausende Afghanen ihr Land verlassen. Für Betrüger sind sie leichte Opfer.

Khaleq wirkt nervös und angespannt, als er über das spricht, was ihm vor rund einem Jahr widerfahren ist. Dass er Scham fühlt und auch Reue, kann er kaum verbergen. Damals erhielt der ehemalige Beamte aus der südafghanischen Stadt Kandahar eine Mail. Die Absender gaben sich als Vertreter der kanadischen Regierung aus und wollten ihm, der aufgrund seiner einstigen Tätigkeit von den Taliban bedroht wurde, helfen. Hoffnung keimte in ihm auf: Man habe ihn und seine Familie nicht vergessen. Doch dann fiel er auf eine perfide Betrugsmasche herein.

Zur Erinnerung: Im August 2021 zogen die internationalen Truppen unter der Führung der USA aus Afghanistan ab und überließen das Land den militant-islamistischen Taliban. Jenen Extremisten, die Washington und seine Verbündeten zuvor zwei Jahrzehnte lang am Hindukusch bekämpft hatten. Zehntausende von Afghanen wurden evakuiert. Khaleq und seine Familie waren nicht darunter.

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Seitdem war er erfüllt von dem Gedanken, dass er und seine Angehörigen eines Tages doch abgeholt werden würden. „Ich habe brav dem System gedient, das der Westen hier errichtet hatte. Ich stand dafür ein“, erklärt der Familienvater heute. Das habe vor allem jenen nicht gefallen, die das westliche System stürzen wollten – und die nun an der Macht sind. Khaleqs Furcht ist verständlich, denn schon lange vor der Rückkehr der Taliban wurden Regierungsbeamte bedroht, gejagt und getötet.

Afghanistan: Frühere Beamte müssen sich verstecken

Zwar sind frühere Beamte nicht zwangsläufig gefährdet, denn dem Taliban-Emirat fehlt es an Personal. Die Gotteskrieger haben meist nur den Kampf gelernt; von Bürokratie haben sie keine Ahnung. So sind vor allem in den Ministerien in Kabul viele Beamte des alten Regimes zu finden. In Kandahar aber, wo Khaleq mit seiner Familie wohnt – und wo die eigentliche Taliban-Führung sitzt – sind die Extremisten weniger pragmatisch. Menschen wie Khaleq verstecken sich deshalb und versuchen, das Land zu verlassen.

In einem Flüchtlingscamp in Pakistan binden sich junge afghanische Mädchen Schals um den Kopf. Für Frauen gibt es unter den Taliban keine Zukunft mehr.
In einem Flüchtlingscamp in Pakistan binden sich junge afghanische Mädchen Schals um den Kopf. Für Frauen gibt es unter den Taliban keine Zukunft mehr. © AFP | RIZWAN TABASSUM

Die Nachricht aus Kanada machte Hoffnung auf einen Ausweg in die Freiheit. Doch sie führte geradewegs in den Ruin: Anfangs wirkte alle seriös und professionell. In fließendem Englisch verlangte der Absender die Dokumente von Khaleq und seiner Familie. Geburtsurkunden, Passkopien und Arbeitsnachweise.

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Die E-Mail-Adresse des Absenders glich jener des kanadischen Außenministeriums, wie Khaleq nach einer Google-Recherche feststellte. Er fühlte sich in sicheren Händen. Doch dann verlangten die „Kanadier“ 5000 US-Dollar im Voraus – pro Person. Für Khaleq und einige seiner Kollegen sowie all deren Familien waren das über 100.000 US-Dollar. Noch zögerten Khaleq und seine Kollegen. Doch dann hieß es, ohne die Zahlungen würden sie auf der Warteliste landen.

Khaleq bekam nun Anrufe von anonymen Nummern, Menschen stellten sich in Farsi und Paschto als Teil des kanadischen Teams in Kabul vor. Dass ausländische Stellen aufgrund von sprachlichen Barrieren mit Afghanen vor Ort zusammenarbeiteten, war nichts Neues. Verdacht schöpfte deshalb niemand. Die ersten Gelder wurden gezahlt. Wenige Tage danach wurde erneut Geld verlangt. Die Flugtickets müssten bezahlt werden. Über Doha würde es nach Toronto gehen. 1000 US-Dollar pro Kopf. So sei nun mal das Prozedere.

Der Afghane Khaleq sah sich schon Kaffee trinkend in Kanada

Khaleq zahlte. Er sah sich schon im Flieger und bald in einem Haus in Kanada. Kaffee trinkend oder in einem Jeep sitzend. Szenen aus dem Leben vieler anderer Afghanen, die es dorthin geschafft hatten. 120.000 US-Dollar hatte die Gruppe inzwischen in ihre Evakuierung investiert. Abgesehen von den jahrelangen Ersparnissen gab es nicht viel. Khaleq verkaufte sein Auto und die Grundstücke seiner Familie. Und er verschuldete sich bei Freunden und Verwandten.

Frisch rekrutiert: Junge Taliban-Kämpfer bei einer Zeremonie in Jalalabad.
Frisch rekrutiert: Junge Taliban-Kämpfer bei einer Zeremonie in Jalalabad. © AFP | SHAFIULLAH KAKAR

Doch nach der „Buchung“ des Flugtickets war das Team, das wochenlang mit Khaleq in Kontakt stand, wie vom Erdboden verschluckt. Mails und Anrufe blieben unbeantwortet. Ein Kollege Khaleqs schlug vor, die kanadische Botschaft in Islamabad zu kontaktieren. „Wir wollten endlich wissen, wann wir abreisen würden. Und dann kam der Schock“, sagt Khaleq. Nach Vorlage der Mails wurde klar, dass er und seine Kollegen auf Betrüger hereingefallen waren. Kanada hatte eine Evakuierung Khaleqs nie in die Wege geleitet.

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Täuschend echt seien die Mails und Signaturen gewesen, das hätten auch die Botschaftsmitarbeiter zugegeben. Doch das hilft nun auch nichts mehr. „Wir müssen uns weiter verstecken“, sagt Khaleq. Es sei wie vorher, nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie nun mittellos seien. Khaleq: „Diese Menschen haben unser Leben zerstört.“

Die mögliche Flucht ist Hauptgesprächsthema im afghanischen Alltag

Khaleqs Geschichte ist kein Einzelfall. Betrüger profitieren zunehmend vom Geschäft mit der Flucht. Die Frage, wie man dem Alltag in Afghanistan entfliehen könne, ist meist Tischthema. Es geht um viel Geld; wer ein Visum für Pakistan, Iran oder Kasachstan möchte, muss mittlerweile eine dreistellige Summe hinblättern. Ähnliches gilt für einen afghanischen Reisepass.

Doch neben den klassischen Schleppern und Schmugglern, die Menschen eigenhändig über Staatsgrenzen verfrachten, agieren zunehmend vermeintliche Evakuierungsteams, die vorgeben, im Auftrag westlicher Regierungen zu handeln, oder sogenannte Reiseagenturen, die angeben, Visadokumente beschaffen zu können. „Mir wurde ein rumänisches Visum für 1500 US-Dollar versprochen. Ich habe gezahlt, doch bekommen habe ich nichts“, erzählt Mohammad aus Kabul. Bedroht werde der 25-Jährige nicht, doch er wolle nur weg von der Not und dem Elend in Afghanistan.

Tropfen gegen Polio: In Kandahar werden Kinder geimpft. Sie sind besonders von der Armut im Land betroffen.
Tropfen gegen Polio: In Kandahar werden Kinder geimpft. Sie sind besonders von der Armut im Land betroffen. © AFP | Sanaullah Seiam

Während eine Agentur in Kabul vorgab, sich um sein Visum zu kümmern, reiste Mohammad illegal in den Iran. „Es hieß, dass man mir das Dokument schicken würde“, erinnert er sich heute. Stattdessen geschah: nichts. Mohammad wurde irgendwann klar, dass sein Geld weg ist. Dann nahm er mit einer anderen Agentur, die ihm einige Bekannte empfohlen hatten, Kontakt auf. Diesmal ging es um ein türkisches Visum für 5000 US-Dollar. Abermals wurden angebliche Beziehungen zur Botschaft vorgespielt. Wieder gab es kein Visum, wieder war das Geld weg.

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Die letzte betrügerische Agentur, die Mohammad um weitere 1500 US-Dollar brachte, stellte ihm tatsächlich ein Dokument aus. Es handelte sich um die Fälschung eines griechischen Geflüchtetenausweises. Damit, so hieß es, könne er zumindest problemlos nach Griechenland reisen. Abermals reiste Mohammad in den Iran, um in die Türkei zu gelangen. Dort wurde er von den Behörden allerdings verhaftet und aufgrund von Dokumentenfälschung verklagt.

Mohammad musste ein Bußgeld in Höhe von umgerechnet 3000 US-Dollar bezahlen. Dann wurde er nach Afghanistan abgeschoben. „Heute verkaufe ich auf dem Basar Kartoffeln. Tolles Leben, oder?“, sagt er bitter. Sein Fluchtversuch habe ihn 15.000 US-Dollar gekostet. Begleichen kann er seine Schulden nicht.

*Name geändert