Berlin. Fast die Hälfte der Geflüchteten möchte nicht mehr in die Ukraine zurückkehren. So auch Irina Martschenko – aus Angst um ihre Töchter.

Etwa eine halbe Stunde von München entfernt liegt die kleine Gemeinde Fahrenzhausen. Knapp 5000 Menschen leben in dem idyllischen Ort nördlich der bayerischen Hauptstadt – und seit anderthalb Jahren auch Irina Martschenko und ihre drei Töchter, die 14-jährige Anastasija, die zehnjährige Tatjana und die Jüngste, Olga, die gerade sechs geworden ist. Am 4. April des vergangenen Jahres, knapp einen Monat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, ist die Familie aus Charkiw nach Deutschland geflohen.

Dass sie in Bayern landeten, war reiner Zufall. Irina und ihre Kinder waren Ende März zunächst nach Uschhorod geflüchtet, einem ukrainischen Ort an der slowakischen Grenze. Ein britischer Freiwilliger brachte die vier von dort mit seinem Auto in die Slowakei – und vermittelten ihnen anschließend einen Kontakt in München. „Ich musste mich schnell entscheiden, also habe ich gesagt: Okay, wir gehen nach Deutschland“, erzählt Mutter Irina.

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Die vier hatten Glück: Sie kamen in der Gästewohnung einer Familie aus Fahrenzhausen unter. Als sie damals abgeholt wurden, habe der Mann ihr gesagt, dass er eine Überraschung für sie habe, erzählt Irina. Seine Frau spreche auch ein bisschen Russisch. Den vier Ukrainerinnen erleichterte das die Ankunft – auch wenn der Anfang dennoch schwer gewesen sei.

Flucht aus Charkiw ins bayrische Fahrenzhausen

Irina sprach kein Deutsch und nur ein wenig Englisch. „Am Anfang hatte ich Angst, dass ich die Menschen nicht verstehe und zum Beispiel nicht nach dem Weg fragen kann“, sagt sie. Doch dann habe sie gemerkt, dass die Kommunikation meistens trotzdem irgendwie gelinge. „Die Leute sind offen und hilfsbereit. Wenn man sprechen möchte, dann findet man auch einen Weg.“

Irina Martschenko in ihrem Wohnort Fahrenzhausen. Die alleinerziehende Mutter aus der Ukraine möchte gerne in Deutschland bleiben.
Irina Martschenko in ihrem Wohnort Fahrenzhausen. Die alleinerziehende Mutter aus der Ukraine möchte gerne in Deutschland bleiben. © Theo Klein | Theo Klein

Irina ist längt kein Einzelfall. Rund eine Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit Kriegsbeginn nach Deutschland geflohen, die meisten davon Frauen und Kinder. Nach aktuellen Zahlen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) ist etwa jede zweite Frau in Begleitung mindestens eines minderjährigen Kindes, knapp die Hälfte davon jünger als zehn Jahre. Irina hat insgesamt vier Töchter – die älteste, bereits erwachsene Tochter, floh direkt nach dem russischen Angriff nach Frankreich.

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Viele Geflüchtete sind inzwischen gut in Deutschland angekommen. Schulpflichtige Kinder gehen fast ausnahmslos zur Schule, bei den unter Sechsjährigen wird zumindest die Hälfte betreut. Auch die Zahl der Erwerbstätigen unter den Geflüchteten steigt immer weiter an, mittlerweile liegt sie bei 28 Prozent. In einer aktuellen Befragung des BiB gaben 44 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer an, mindestens längerfristig in Deutschland bleiben zu wollen. Das heißt: Für einige Jahre – oder sogar für immer.

„Wenn wir zurückkehren, wäre es nicht wie früher“

So ist das auch bei Irina und ihren Kindern. Sie könne sich aktuell nicht mehr vorstellen, zurück in die Ukraine zu gehen, sagt die 44-Jährige. Ein großer Teil ihrer Heimatstadt Charkiw sei zerstört. Auch wenn ihre Wohnung nicht getroffen worden sei, müsse sie realistisch bleiben „Ich kann nicht emotional handeln, sondern muss das tun, was für meine Kinder am besten ist“, sagt sie. In Deutschland würden ihre Töchter eine gute Bildung bekommen, sie könnten zur Schule gehen und sich mit Freundinnen treffen. All das sei aktuell in der Ukraine nicht möglich.

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„Natürlich habe ich Heimweh, aber die Angst ist größer“, sagt Irina – und fügt hinzu: „Selbst, wenn wir zurückkehren würden, wäre es nicht mehr wie früher.“ Auch die meisten ihrer Familienmitglieder und früheren Freunde würden mittlerweile woanders wohnen. Der Vater ihrer Kindern lebe zwar noch immer in der Ukraine, Kontakt zu ihm besteht allerdings keiner mehr.

Viele ukrainische Frauen sind mit ihren minderjährigen Kindern geflüchtet – und hoffen auf Schul- und Kitaplätze.
Viele ukrainische Frauen sind mit ihren minderjährigen Kindern geflüchtet – und hoffen auf Schul- und Kitaplätze. © epd | Christoph Boeckheler

Wie alle ukrainischen Geflüchteten konnten auch Irina und ihre Töchter nach ihrer Ankunft in Deutschland eine Aufenthaltsgenehmigung zum vorübergehenden Schutz beantragen. Doch sie gilt aktuell nur bis März 2024. Eine Verlängerung wurde bislang nicht beschlossen, auch wenn das aufgrund der Situation in der Ukraine als wahrscheinlich gilt – zumindest für ein weiteres Jahr. Wie es danach weitergeht, ist unklar. „Ich wünsche mir sehr, dass wir bleiben können“, sagt Irina.

Expertin: Viele Frauen werden nicht zurückkehren

Auch ihre Töchter fühlen sich in Deutschland wohl. Die beiden Älteren gehen hier zur Schule, alle drei haben Freundinnen gefunden und kümmern sich in ihrer Freizeit gern um die Pferde auf einem Hof in der Umgebung. Die 14-jährige Anastasija sprach bereits nach einem halben Jahr so gut Deutsch, dass sie in die siebte Klasse einer Mittelschule wechseln konnte, ab September geht sie in die achte. Auch die zehnjährige Tatjana lernte schnell die neue Sprache und wurde direkt in eine reguläre Klasse in der Grundschule aufgenommen – sie werde bald aufs Gymnasium gehen, erzählt Irina stolz.

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Nur bei Olga sei das Ankommen etwas schwieriger gewesen, weil die gerade Sechsjährige noch bis Anfang dieses Jahres keinen Kindergarten-Platz bekommen habe. „Mütter, die ihre Kinder hier in Schulen haben, werden es sich gut überlegen diese Kinder aus den Schulen zu nehmen und in ein zertrümmertes Land zurückzugehen“, sagt die Leiterin des Deutschen Instituts für Migration und Integrationsforschung (DeZIM) in Berlin, Naika Foroutan, dieser Redaktion.

Immer wieder werden auch Wohnhäuser in der Ukraine bombardiert – wie hier in Krywyj Rih.
Immer wieder werden auch Wohnhäuser in der Ukraine bombardiert – wie hier in Krywyj Rih. © dpa | Libkos

Es sei davon auszugehen, dass viele ukrainische Frauen langfristig in Deutschland bleiben werden – allein schon deshalb, weil der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich noch länger andauern werde. Jetzt brauche es Perspektiven für die Geflüchteten, sagt Foroutan: „Wenn Deutschland hier keine langfristigen Integrationsmaßnahmen vorbereitet, die auch das Bleiben mit einkalkulieren, dann werden wir es mit einer Gruppe im Transit zu tun haben.“

Irina will Erzieherin werden – und „etwas beitragen“

Ganz ähnlich äußert sich auch ihr Kollege Jannes Jacobsen, der ebenfalls am DeZIM forscht. „Die Politik sorgt durch die kurzen Aufenthaltstitel selbst für ein Integrationshemmnis“, sagt er. Die Forschung zeige, dass Geflüchtete insbesondere dann in ihre strukturelle Integration, etwa in den Arbeitsmarkt, investieren würden, wenn sie eine Aussicht auf eine Bleibe-Möglichkeit hätten. Bisher sei die Erwerbstätigkeitsquote gerade bei den geflüchteten Frauen deutlich niedriger als bei Männern.

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Um die Ukrainerinnen besser eingliedern zu können, brauche es vor allem eine gute Kinderbetreuung, fordert Jacobsen: „Wir wissen hier aus der Vergangenheit, wie wichtig die Kinderbetreuung für geflüchtete Frauen ist, um ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern“. Auch Irina möchte gerne in Deutschland arbeiten. Seitdem Olga in den Kindergarten geht, besucht sie einen Deutschkurs. Sie möchte die Sprache so schnell wie möglich gut sprechen können.

Ihr Ziel: eine Ausbildung als Erzieherin. „Ich möchte etwas zur Gesellschaft beitragen“, erklärt sie. In Deutschland zu sein, sieht die 44-Jährige als Chance. Schon in der Schule habe sie Deutsch lernen wollen, nun könne sie das endlich nachholen. Dennoch denkt sie oft an ihre Heimat, an die Menschen dort, an das Essen, das sie sehr vermisst. In Deutschland schmecke es einfach nicht so gut.