Berlin. Deutschland steigt aus der Atomkraft aus. Was das für Versorgungssicherheit, Preise und den Kohleausstieg bedeutet – ein Überblick.

Am Samstag soll es so weit sein: In den letzten noch laufenden deutschen Atomkraftwerken gehen die Lichter aus – im übertragenden Sinn jedenfalls. In einem praktischeren Sinn bleiben Aufräumarbeiten und Rückbau. Doch der 15. April 2023 markiert trotzdem eine historische Zäsur: Nach mehr als 60 Jahren geht das Zeitalter des Atomstroms in Deutschland zu Ende.

Welche Atomkraftwerke werden am Samstag abgeschaltet?

Drei Meiler waren es zuletzt noch, die in Deutschland Atomstrom produzierten: Das Kraftwerk Emsland in Niedersachsen, Neckarwestheim II in Baden-Württemberg und Isar II in Bayern. Gut ein Jahr zuvor, zum Jahreswechsel 2021/22, waren mit Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C bereits drei Kraftwerke vom Netz gegangen.

Atom-Ausstieg am 15. April: Wie kam es zu diesem Datum?

Eigentlich hätte schon zu Silvester Schluss sein sollen. Den 31. Dezember 2022 hatte noch die schwarz-gelbe Koalition 2011 als Ausstiegsdatum festgelegt. Doch vor dem Hintergrund der Energie-Krise, die der Ukraine-Krieg ausgelöst hatte, und nach heftigem internen Streit, entschied sich die Ampel-Koalition, das Datum noch einmal um dreieinhalb Monate zu verschieben.

Es war die jüngste von mehreren Volten in der deutschen Atompolitik. Die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) hatte eigentlich schon 2002 den Ausstieg auf den Weg gebracht. Doch die Regierung von Union und FDP unter Angela Merkel beschloss acht Jahre später eine Verlängerung der Laufzeiten. Kurz darauf folgte eine erneute Kehrtwende: 2011, nach dem schweren Reaktorunglück im japanischen Atomkraftwerk Fukushima, setzte die Schwarz-Gelb den Ausstieg für 2022 fest.

Atomausstieg: Werden die Kraftwerke abgerissen?

Einfach mit der Abrissbirne anzurücken, ist bei Atomkraftwerken keine Option. Zu stark kontaminiert sind die Anlagen durch die jahrzehntelange Strahlenbelastung. Stattdessen beginnt ein aufwendiger und jahrelanger Rückbau-Prozess, für große Anlagen sind teilweise mehr als 20 Jahre angesetzt. Auf die Betreiber, die Stilllegung und Rückbau zahlen, kommen damit noch einmal erhebliche Ausgaben zu: Nach Angaben von RWE liegen die Kosten je nach Größe, Alter und Betriebsstunden der Anlagen zwischen 500 Millionen und 1 Milliarde Euro. Mehr zum Thema: Radioaktiver Schrott – So wird ein Atomkraftwerk zerlegt

Wie viel Strom erzeugten die Atomkraftwerke zuletzt noch?

2022 machte der Strom der drei letzten Akw noch 6,7 Prozent an der Nettostromerzeugung in Deutschland aus. In den ersten vier Monaten 2023 war dieser Anteil auf 4,6 Prozent gesunken, weil die Kraftwerke bereits mit geringerer Leistung liefen.

Neckarwestheim in Baden-Württemberg ist eines der drei letzten Akw, die an diesem Wochenende in Deutschland vom Netz gehen.
Neckarwestheim in Baden-Württemberg ist eines der drei letzten Akw, die an diesem Wochenende in Deutschland vom Netz gehen. © dpa | Christoph Schmidt

Die Bewertungen, ob die Verlängerung wirklich nötig war, gehen auseinander: Bei der FDP etwa sieht man im Betrieb der Kraftwerke über den Winter 2022/23 einen wichtigen Beitrag zur Energiesicherheit. Eine Studie des Energie-Beratungsunternehmens Enervis im Auftrag von Greenpeace und Green Planet Energy kommt dagegen zu dem Schluss, dass die Versorgungssicherheit auch ohne Atomkraft gegeben gewesen wäre und die Verlängerung nur geringe Effekte auf den Gasverbrauch und die Strompreise hatte. Laut Enervis reduzierte der Streckbetrieb die Stromerzeugung aus Gas im vergangenen Winter um zwei Prozent, die aus Kohle um 0,7 Prozent im Vergleich zu 2022.

Droht mit dem Atomausstieg ein Black-out?

Nach Angaben der Bundesnetzagentur: Nein. In einem Bericht zur Versorgungssicherheit im Stromsektor von Februar 2023 kommt die Behörde zu dem Schluss, dass „die sichere Versorgung mit Elektrizität im Zeitraum 2025 bis 2031 gewährleistet ist“. Zu den Szenarien, die dafür durchgerechnet wurden, gehörten auch solche, in denen Deutschland schon 2030 aus der Kohle aussteigt.

Teile der Wirtschaft sind allerdings skeptisch. DIHK-Präsident Peter Adrian sagte in dieser Woche, man sei „beim Thema Versorgungssicherheit noch nicht über den Berg“.

Macht Atomausstieg den Strom teurer?

Energiemarkt-Expertin Christina Wallraf von der Verbraucherzentrale NRW sieht aktuell keine Auswirkungen des Ausstiegs auf den Strompreis. „Die Marktakteure haben sich bereits auf die neue Situation eingestellt“, sagt sie. „Strom wird bereits jetzt für die kommenden Wochen und Monate gehandelt, und es sind keine Preisanstiege an den Märkten erkennbar.“

Aus Sicht von Mirko Schlossarczyk von Enervis wäre der Preiseffekt bei einer Verlängerung der Laufzeit bis Jahresende sehr überschaubar gewesen. Der Stromgroßhandelspreis hätte 2023 im Jahresmittel um drei Euro je Megawattstunde niedriger gelegen. „Für Haushaltskunden wäre das ein um 0,3 Cent je Kilowattstunde geringerer Preis, ein Rückgang von nicht einmal einem Prozent.“

Atomausstieg: Gelingt auch ein vorgezogener Kohleausstieg?

Neben dem Ende der Atomkraft in Deutschland hat sich die Bundesregierung auch einen schnelleren Kohleausstieg vorgenommen. Im rheinischen Revier soll, nach einer Vereinbarung mit RWE, 2030 Schluss sein. Und zumindest die Grünen und Wirtschaftsminister Robert Habeck streben das auch für die Kohleregionen in Ostdeutschland an – auch, weil einige Expertinnen und Experten vor dem Hintergrund steigender europäischer CO2-Preise ohnehin davon ausgehen, dass Kohle schon lang vor dem bisher festgelegten Ausstiegsdatum 2038 nicht mehr rentabel sein wird.

Interaktiv: Das Ende des deutschen Atomzeitalters in Grafiken

Doch mit Kohle und Atom fallen dann innerhalb weniger Jahre zwei Formen der Stromerzeugung weg, die wetterunabhängig sind. Solche braucht es allerdings als Ergänzung zu den erneuerbaren Energien, die nach den Plänen der Bundesregierung bis 2030 80 Prozent des Strommixes in Deutschland ausmachen sollen.

Flexibel einsetzbare Leistung sollen dann Kraftwerke liefern, die zunächst mit Gas, später mit Wasserstoff laufen. Doch davon müssen jetzt schnell viele zugebaut werden. Weil den Großteil der Versorgung aber Wind und Sonne tragen sollen, ist noch offen, wie die Rahmenbedingungen ausgestaltet werden sollen, damit sich der Bau dieser Kraftwerke für Betreiber lohnt.

Das Bundeswirtschaftsministerium arbeitet laut einer Sprecherin an einer „kurzfristig wirksamen Kraftwerksstrategie“ für steuerbare Kraftwerke, die Strom erzeugen, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Unter anderem durch die Modernisierung älterer Gaskraftwerke und Ersatz von Kohleanlagen sollten bis zu 25 Gigawatt an steuerbaren Kraftwerken gebaut werden, die teilweise von Anfang an, teils auch zu einem späteren Zeitpunkt mit Wasserstoff betrieben werden könnten.

Ist Frankreich durch Kernkraft unabhängig?

Anders als in Deutschland ist bei den Nachbarn auf der anderen Rheinseite von einem Ende der Atomkraft nichts zu sehen. Frankreich setzt weiter und mit Nachdruck auf Kernkraft, 56 Akw gibt es im ganzen Land.

Lange Zeit sorgten sie dafür, dass Frankreich Netto-Stromexporteur war – bis zum vergangenen Jahr. 2022 hatte der französische Kraftwerkspark aus unterschiedlichen Gründen so viele Ausfälle, dass Frankreich über das europäische Stromnetz Strom von anderen Ländern importieren musste, unter anderem aus Deutschland. Das trieb auch in der Bundesrepublik die Strompreise nach oben.

Trotzdem sieht Frankreich in der Atomkraft einen entscheidenden Baustein für die Klimaneutralität. In den kommenden Jahren soll die Atomstromproduktion nach dem Willen der Regierung wieder deutlich steigen, außerdem sind sechs neue Kraftwerke geplant. Wie diese finanziert werden sollen, ist allerdings unklar.