Groß Vahlberg. Der Atommüll aus der maroden Asse muss endlich raus, sagt Anja Haase. Warum die Frau aus Vahlberg gegen ein Staatsunternehmen klagt.

Der Schnee knirscht unter ihren Stiefeln, es ist Anfang Dezember, der Winter kam unerwartet früh. In den Händen trägt Anja Haase, 55, ein leuchtendgelbes „A“ aus Holz den Berg hinauf. Um die sportliche, blonde Frau im dunklen Parka ist es alles weiß auf der Asse. Die Buchen und Kiefern, der Förderturm des früheren Salzbergwerks, die Zäune, die Videokameras, das Wachhäuschen an der Einfahrt zur Schachtanlage Asse II im Landkreis Wolfenbüttel.

Der Kontrast zum gelben Buchstaben in Haases Händen könnte größer kaum sein. A wie „AufpASSEn“. A wie Asse. A wie Atommüll, der in verrotteten Fässern hunderte Meter tief unter der schneeweißen Decke liegt. Als sich Haase mit dem leuchtenden Holzbuchstaben für ein Foto am Gittertor zu Deutschlands gefährlichster Müllkippe aufstellt, lässt man sie gewähren. Niemand hält sie auf. Niemand fragt: Wer sind Sie – und was tun Sie hier? Man kennt das man hier wohl schon.

Von Groß Vahlberg, dem Heimatort von Klägerin Anja Haase (55), ist es nur einen knappen Kilometer bis zur Schachtanlage.
Von Groß Vahlberg, dem Heimatort von Klägerin Anja Haase (55), ist es nur einen knappen Kilometer bis zur Schachtanlage. © FMN | Erik Westermann

In solchen Momenten beschleicht sie ein Gedanke: Müsste unser Protest wilder sein? Würde man uns ernster nehmen, wenn wir Farbbeutel schmeißen? Sie hatte überlegt, sich an einen der alten Bäume zu ketten, die auf dem Höhenzug wachsen. Kiefern, wie an Frankreichs Atlantikküste, die sie liebt. „Aber wen würde das interessieren?“

Eine Heilerziehungspflegerin aus dem Kreis Wolfenbüttel gegen eine Firma mit 2000 Mitarbeitern

Stattdessen zieht Anja Haase vor Gericht. Der Müll muss weg, sagt sie. So schnell wie möglich. Und darum hat die Anwohnerin mit Unterstützung der Initiative „AufpASSEn“ vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg Klage gegen die zuständige Bundesgesellschaft für Endlagerung eingereicht. Eine Heilerziehungspflegerin und ein Verein mit 100 Mitgliedern im Kampf gegen eine Firma im Besitz des Bundes, die 2300 Mitarbeiter beschäftigt.

2020: Etwa 50 Asse-Aktivisten trafen sich zu Kundgebungen und einem Demonstrationszug in unmittelbarer Nähe des maroden Salzbergwerks Asse II, in dem schwach- und mittelradioaktiver Abfall eingelagert wurde. Anja Haase ist dabei (rechts am Transparent).
2020: Etwa 50 Asse-Aktivisten trafen sich zu Kundgebungen und einem Demonstrationszug in unmittelbarer Nähe des maroden Salzbergwerks Asse II, in dem schwach- und mittelradioaktiver Abfall eingelagert wurde. Anja Haase ist dabei (rechts am Transparent). © Karl-Ernst Hueske | Karl-Ernst Hueske

Der Name Asse steht eigentlich für den Höhenzug unweit des Elternhauses von Anja Haase, nur einen Fußmarsch entfernt im Dörfchen Groß Vahlberg. Schon als Kind hat sie in den Wäldern gespielt. Dort, wo sich Erhebung an Erhebung reiht, kilometerweit, wie an einer Kette. Wo Wanderer die Liebesallee durchqueren, durch Buchen- und Kiefernwälder streifen, in Kalksteinbrüchen kraxeln. Ein großer Teil des bewaldeten Gebietes steht unter Naturschutz, hier finden sich Märzenbecher, Leberblümchen oder Lerchensporn. An der Asse treffen zwei Klimazonen aufeinander – die kontinentale und die atlantische. Und zwei Realitäten. Die der Behörden – und die der Menschen, die hier leben.

Fünf Jahrzehnte später ist das kein Spiel mehr für Anja Haase. „Wenn mein Mann und ich Besuch bekommen, zeige ich das Atommülllager“. Oder das, was man davon sieht.

Einmal im Monat treffen sich die Vahlberger Asse-Aktivisten an einer Scheune im Ort. Ihre Forderung ist klar und deutlich zu erkennen.
Einmal im Monat treffen sich die Vahlberger Asse-Aktivisten an einer Scheune im Ort. Ihre Forderung ist klar und deutlich zu erkennen. © FMN | Erik Westermann

Wer „Asse“ hört, denkt nicht mehr an die Schönheit der Natur. Das frühere Kalibergwerk hat traurige Berühmtheit erlangt. Bis 1978 wurde hier tonnenweise radioaktives Material aus Atomkraftwerken, Medizin und Forschung eingelagert. Da war Anja Haase zehn.

Die Schachtanlage Asse II: Ein „atomares Dreckloch“

Bis heute lagern in 13 Kammern in 500 bis 750 Metern Tiefe mehr als 126.000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktivem Abfall. Der frühere SPD-Bundesumweltminister Sigmar Gabriel nannte es „die problematischste kerntechnische Anlage in Europa“. Sein späterer Kollege Stefan Wenzel von den Grünen sprach von einem „atomaren Dreckloch“. Das war, bevor er selbst Landesminister wurde.

Es muss endlich etwas geschehen. Selbst wenn mein Mann und ich das nicht mehr erleben.
Anja Haase - klagt, damit der Atommüll aus der Schachtanlage Asse II schnell herausgeholt wird

Unter dem Deckmantel der Forschung wurde das Bergwerk ab den 1960er Jahren als wilde Müllkippe für radioaktives Material genutzt. Als Versuchsobjekt für ein Endlager, in dem die Abfallprodukte der Kernenergie verstaut werden. Die Schachtanlage Asse II ist sicher, hieß es damals. Die Asse ist trocken. Tatsächlich strömt täglich kubikmeterweise Wasser in das Bergwerk, der Salzabbau hat den Berg durchlöchert, er bewegt sich und steht unter Spannung. Erst die Beharrlichkeit der Umweltaktivisten brachte das alles ans Licht. Anja Haase war mittendrin.

Der Kampf der Asse-Aktivisten aus

Früher, sagt sie, war sie wie andere, die ignorieren, was vor ihrer Haustür passiert. Nichts hören, nichts sehen. „Heile Welt.“ Ihr Blick wandert aus dem Wohnzimmerfenster ihres Hauses in Groß Vahlberg. Auf dem Holz-Tisch mit der Patina vergangener Jahrzehnte stehen selbstgebackene Zimtschnecken, in den Tassen dampft Tee, im Kamin in der Diele knistert ein Feuer. Alles wirkt warm. Ihre Familie lebt seit 120 Jahren in dem Fachwerkhaus, das die Urgroßeltern haben errichteten.

Zwei Töchter haben Anja und ihr Mann Michael hier aufgezogen. Es ist einer von vielen früheren Bauernhöfen an der Hauptstraße, die sich durch das 309-Einwohner-Dorf schlängelt. Neubauten gibt es nur wenige. Eines der Dörfer, in dem es lange dauert, bis man dazu gehört.

Anja Haase vor der Scheune, in der die Asse-Aktivisten aus Vahlberg ihre Utensilien lagern. Die 55-Jährige ist seit mehr als 20 Jahren dabei.
Anja Haase vor der Scheune, in der die Asse-Aktivisten aus Vahlberg ihre Utensilien lagern. Die 55-Jährige ist seit mehr als 20 Jahren dabei. © FMN | Erik Westermann

Vor mehr als 20 Jahren flammten die Proteste um die marode Lagerstätte wieder auf, in dem Dorf entstand eine Gruppe, die „Vahlberger Asse-Aktivisten“. Anfangs waren es fast nur Männer. „Ich war anfangs für Kaffee und Kuchen zuständig“, sagt Haase und lacht herzlich über diesen Inbegriff des Klischees einer Hausfrau, das ihr schon damals nicht gerecht wurde. Sie brachte sich ein, diskutierte mit – und blieb aus Überzeugung: Bei den Asse-Andachten, bei Konzerten, als Teil einer Menschenkette. „Ich bin nicht die Expertin für die technischen Details“, sagt sie über sich. Aber sie ist hartnäckig und verlässlich.

Langsam kam Bewegung in die Sache, Politiker stellten sich hinter den Protest. Die Schachtanlage wurde dem strengen Atomrecht unterstellt, wo vorher das laxere Bergrecht galt. Was die Aktivisten zutage förderten, schaffte es in die Tagesschau: Toxische Lauge, einsturzgefährdete Kammern mit rostigen Metallfässern unbekannten Inhaltes, hochgiftiges Plutonium. Drei Strafverfahren und ein Untersuchungsausschuss resultierten aus den Enthüllungen rund um die Asse.

Ein erster Erfolg für die Aktivisten – und das lange Warten danach

Als der Bundestag am 28. Februar 2013 dann einen Zusatz zum Atomgesetz verabschiedete, war das ein erster Erfolg für Anja Haase und die anderen Aktivisten. „Die Schachtanlage ist unverzüglich stillzulegen […]. Die Stilllegung soll nach Rückholung der radioaktiven Abfälle erfolgen“, gab die „Lex Asse“ vor. Der Atommüll aus dem früheren Salzbergwerk sollte raus. Bevor die Anlage absäuft oder einstürzt, wie in benachbarten Schächten bereits geschehen.

Sieben Jahre später veröffentlichte die BGE ein erstes Konzept, wie das geschehen soll: Um die maroden Atommüllfässer nach oben zu fördern, ist demnach ein neuer Schacht, eine Umverpackung und ein Bereitstellungslager nötig. Mit dem Beginn der Rückholung sei frühestens 2033 zu rechnen, sagte die BGE. Mit der endgültigen Schließung der Schachtanlage dann ab 2050. Heute, vier Jahre nachdem der erste Rückholplan vorgestellt wurde, glaubt niemand mehr an diese Daten. Die Asse-Aktivisten sagen: Die Pläne sind vage, konkrete Planung zur Ausführung oder gar Anträge gebe es bisher nicht. Der Blick von Anja Haase, die sonst so gelassen und freundlich auf die Welt schaut, verdüstert sich. „Dabei war der Auftrag des Gesetzgebers klar.“

Haase: „Ich wusste, die Klage wird nicht allen gefallen“

Anja Haase ist eine aufgeräumte Frau, die sich an Regeln hält und in allem auch das Gute sieht. Seit 35 Jahren betreut die Heilerziehungspflegerin Menschen mit Beeinträchtigung. Mit dem Gesetz kam sie Zeit ihres Lebens nicht in Konflikt. Sie backt und kocht gern. In ihrer Kirchengemeinde war sie lange Zeit für den Kindergottesdienst und das Krippenspiel zuständig. Wenn Mitaktivisten wutentbrannt zum Rundumschlag gegen Behördenmitarbeiter ansetzen, beschwichtigt sie: „Die machen auch nur ihren Job.“

Zwar nicht so, wie sie es sich wünscht. Aber kein Grund, persönlich zu werden. Doch auch in ihr schwelt, tief drin, mittlerweile Groll und der Gedanke: Die bei der BGEverschaukeln uns doch!

Die Entscheidung, als Privatperson gegen die Betreibergesellschaft zu klagen, hat sie sich trotzdem nicht leicht gemacht. „Ich wusste, das wird nicht allen gefallen.“

Wie der Kampf gegen den Atommüll in der Asse ein Dorf spaltet

In Groß Vahlberg ist nicht jeder vom Protest begeistert. Das Dorf ist gespalten: Hier die Gruppe der Aktivisten und ihrer Sympathisanten. Dort die schweigende Mehrheit. Als Anja Haase vor Jahren das erste knallgelbe Protest-„A“ vor ihr Haus stellte und ein Plakat daneben hing, redete ihre Mutter tagelang nicht mit ihr. „Auf der einen Seite fand sie gut, dass ich mich engagiere. Auf der anderen sorgte sie sich, was die Leute nun dächten.“ Viele Dorfbewohner arbeiten in der Schachtanlage. Andere glaubten: Die von der BGE werden schon wissen, was sie tun. „Aber wer einmal hinter die Kulissen geschaut hat, sieht das anders.“

Anja Haase war unsicher, ob die Klage diese Kluft noch vertiefen würde. Am Ende entschied sie sich trotzdem dafür. „Es muss endlich etwas geschehen. Selbst wenn mein Mann und ich das nicht mehr erleben. Dann wenigstens für unsere Töchter, für die folgenden Generationen.“

Zwei Frauen präsentieren die Klage in Hannover

Im Herbst 2023 präsentierten Heike Wiegel von „AufpASSEn“ und sie die Klageschrift dann vor der Landespressekonferenz in Hannover. Tage vor dem Termin war Haase aufgeregt: Sie, die in ihrem Leben nur einmal vor der Kamera stand, vor einem Rudel Journalisten?

Es ging dann doch alles gut. „Wir fordern die unverzügliche Stilllegung der Schachtanlage Asse 2 mit der Vorzugsoption Rückholung nach Paragraf 57b Atomgesetz.“ Zum Schutz von Leben, Gesundheit und Umwelt. Hinterher fand sich ihr Name bundesweit in den Medien.

Und die Reaktionen im Dorf? „Es gab kaum welche.“ Nur manch einer schien angestrengt zur Seite zu schauen. Oder war das Einbildung?

Das Atommülllager Asse.
Das Atommülllager Asse. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Der alternde Protest

Jeden zweiten Mittwoch im Monat versammeln sich die Vahlberger Asse-Aktivisten beim Abend der offenen Scheune. Es ist Mitte Januar und klirrend kalt. Ein Dutzend Menschen beugt sich um eine rostbraune Feuertonne, klamme Hände umklammern Becher mit Glühwein oder Tee. Gelegentlich folgen Landes- und Bundespolitiker den Einladungen hierher. Vor allem in Wahlkampfzeiten. Heute, bei minus 7 Grad, ist nur der harte Kern da, sagt Anja Haase. Sie gehört dazu.

Grau ist die dominierende Haarfarbe. Fast alle Teilnehmer sind jenseits der 50. Der Protest wird älter. Der Nachwuchs fehlt.

Anja Haase weiß ja: „Die jungen Leute haben den Kopf voll mit Kindern und allem.“ Aber manchmal beschleicht sie das Gefühl, die Aufmerksamkeit da draußen in der Welt lässt nach. „Schon in Braunschweig, 20 Kilometer entfernt, interessiert kaum einen, was hier passiert.“ Sehen Sie die Gefahr denn nicht? Die Gefahr, die droht, wenn der Schacht mit dem radioaktiven Müll absäuft?

Währenddessen sie ihren Gedanken nachhängt, berichtet ein früherer Gewerkschafter in der Scheune von den Antworten der Betreibergesellschaft BGE auf Fragen der Aktivisten. Sie füllen Dutzende Seiten. Die Aktivisten wollen ja Antworten. Aber Papier ist geduldig. Anja Haase hat manchmal das Gefühl, die BGE will sie auf diese Weise ruhigstellen.

So stellt sich die BGE das Zwischenlager am Schacht vor. Ein Plan aus dem Sommer 2022.
So stellt sich die BGE das Zwischenlager am Schacht vor. Ein Plan aus dem Sommer 2022. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Den Ärger der Aktivisten rund um das Feuer scheint das nur anzufachen. Sie schimpfen auf die „Atommüllfabrik“, die auf der Asse entsteht. Sprechen von den Gefahren des Zwischenlagers, in dem die herausgeholten Fässer aufbewahrt werden. Dass es zu nah an den Siedlungen der Umgebung entsteht. Es geht um das große neue Bürogebäude und das Parkhaus, das die BGE für ihre Mitarbeiter bauen will. „Mittenim Umweltschutzgebiet.“ Es geht um die Angst, dass das Zwischenlager zur Dauerlösung wird. „Alles ungefährlich, sagen die Betreiber.“ Das haben die Anwohner schon häufiger gehört.

Die Diskussion wogt hin und her, Meinungen kollidieren. Wer nicht tief drinsteckt in den Vorgängen um die Asse, geht in den Details unter. Anja Haase hält sich im Hintergrund. Manchmal, glaubt sie, verheddern sich die Aktivisten. Trotzdem kämpfen sie gemeinsam.

Was man sich im Kreis Wolfenbüttel von der Klage erhofft

In die Klage setzen alle am Feuer große Hoffnungen. Sie soll die Rückholung beschleunigen, sie reißt die Mauern ein, hinter denen sich die Betreiber verschanzen.

Auch Anja Haase glaubt daran. Ein Termin für die Verhandlung in Lüneburg steht zwar noch aus. Aber schon jetzt ist sie sicher: Der Rechtsweg wird effektiver sein, als sich an einen Baum zu ketten oder einen Farbbeutel zu werfen. „Denn das können die nicht einfach so weglächeln.“