Berlin. Wladimir Putin behauptet, in der Ukraine gegen „Nazis“ zu kämpfen. Auch 78 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist das ein Hohn.

Der 8. Mai 1945 ist und bleibt für Deutschland der Tag der Befreiung von den Schrecken des Nationalsozialismus. Diese Befreiung ist nicht nur Amerikanern, Franzosen oder Briten zu verdanken. Sie wurde erst möglich durch den Widerstand der Roten Armee und die unermessliche Leidensbereitschaft der Sowjetbevölkerung im „Großen Vaterländischen Krieg“. Mehr als 27 Millionen Menschen – darunter rund acht Millionen Ukrainer – verloren im Zuge von Adolf Hitlers Eroberungsfeldzug ihr Leben.

Seit vielen Jahren würdigt jeder deutsche Außenminister diesen gewaltigen Blutzoll durch einen Besuch am Grabmal des Unbekannten Soldaten an der Westmauer des Kreml. Zuletzt legte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Januar 2022 einen Kranz an der roten Granitplatte mit dem Ewigen Feuer nieder – wenige Wochen vor Beginn der Ukraine-Invasion. Sie sprach von „Scham“ und „Ehrfurcht“, die sie in diesem Moment angesichts der Last der Vergangenheit empfunden habe.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

"Tag des Sieges": Kolonnen an Panzern und Raketen für eine gigantische Patriotismus-Show

Wenn an diesem Dienstag in Russland der „Tag des Sieges“ gefeiert wird, geht es nicht um eine historische Rückschau, gepaart mit dem moralischen Imperativ „Nie wieder Krieg!“ In Moskau zelebriert Präsident Wladimir Putin eine martialische Militär- und Waffenschau. Mehr als 10.000 Soldaten – auch von der Front in der Ukraine – marschieren auf. Ganze Kolonnen an Panzern und Raketen werden in einer gigantischen Patriotismus-Show aufgefahren.

Zu verurteilen ist, dass Putin die Vergangenheit in die Gegenwart projiziert. Der Ukraine-Krieg hat für ihn die gleiche Feind-Konstellation wie der Zweite Weltkrieg. Nach dieser Lesart kämpfte die Sowjetunion in den 1940er Jahren gegen Hitlers Nazi-Truppen.

Russland: Die Befreier von 1945 sind die Aggressoren von heute

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent © Reto Klar | Reto Klar

Heute stehen russische Soldaten den als „Nazis“ verunglimpften Verteidigern in der Ukraine gegenüber. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist demnach nicht der frei gewählte Staatschef der Ukraine, sondern die vom Westen installierte Galionsfigur eines für Russland bedrohlichen „Nazi“-Regimes. Eine bizarre Interpretation angesichts der Tatsache, dass Selenskyj Jude ist.

Putin betreibt lupenreine Geschichtsklitterung. Er vergleicht den brutalen russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit dem heldenhaften Abwehrkampf der Roten Armee gegen Hitlers Schergen. Der Kremlchef stilisiert Russland zum Opfer einer westlichen Verschwörung. Die Wahrheit ist aber: Die Befreier von 1945 sind die Aggressoren von heute. Einher geht dies mit einer zunehmenden Repression nach innen.

Zehntausende Soldaten sterben im Fronteinsatz in der Ukraine einen sinnlosen Tod

Dass Putin versucht, die Ukraine mit dem „Nazi“-Verbalknüppel zu diskreditieren, hat ideologische Gründe. Der 70-Jährige sieht sich auf einer imperialen Mission. Er verbrämt dies als historischen Auftrag, russische Erde zurückzuholen, die seinem Land angeblich zustehe. Putin verglich den Ukraine-Krieg mit dem Nordischen Krieg von Zar Peter dem Großen gegen Schweden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – laut dem Kremlchef „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – träumt er von einer Renaissance der Weltmacht Russland.

Mit dieser Vision eines großen, starken und mächtigen Russlands, das in der Welt respektiert und gefürchtet wird, will sich Putin innenpolitische Gefolgschaft verschaffen. Aber es ist eine rückwärtsgewandte Vision. Und sie hat einen erschreckend hohen Preis: Zehntausende Soldaten sterben im Fronteinsatz in der Ukraine einen sinnlosen Tod. Erstmals seit 1939 werden Grenzen in Europa gewaltsam verschoben. Zwischen dem heutigen Einmarsch in der Ukraine und der Befreiung von der Nazi-Herrschaft durch die Rote Armee liegen Welten.