Berlin. Die Neurotechnologie macht große Fortschritte. In der Medizin kann sie nicht nur für Schlaganfall-Patienten eine große Hilfe sein.

Vor fast vier Jahrzehnten, mit 18, hatte Annette Dreher einen Schlaganfall. Seitdem kann sie ihre rechte Hand nicht mehr bewegen. Nun sitzt Dreher vor der Kamera und erzählt: „Ich musste denken: Hand, öffne dich. Und dann hat es die Hand tatsächlich gemacht. Das ist unglaublich.“

Dreher spricht von einem Exoskelett, einer Apparatur, die aussieht wie die metallene Hand eines Roboters. Und von der weißen Kappe, die sie auf dem Kopf trägt. In ihr sind unzählige Sensoren eingebaut. Sie messen Drehers Hirnströme und übersetzen sie in ein Steuersignal, das die Roboterhand zugreifen lässt. Damit kann Annette Dreher wieder beide Hände einsetzen, zum Beispiel um Gurken zu schneiden oder mit rechts eine Zahnbürste zu halten.

Die neuen Möglichkeiten für Annette Dreher stehen beispielhaft für die Fortschritte der Klinischen Neurotechnologie. In diesem Fachbereich der Medizin beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem mit der Frage, wie das Auslesen und Trainieren des Gehirns die Behandlung neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen verbessern können. Dafür forschen sie an Gehirn-Computer-Schnittstellen – einer Möglichkeit also, Mensch und Maschine miteinander zu verbinden.

Neuartige Sensoren arbeiten auf der Basis von Diamanten

Von Gedanken gesteuert: Experimente mit einem Exoskelett in der Berliner Charité.
Von Gedanken gesteuert: Experimente mit einem Exoskelett in der Berliner Charité. © Klinische Neurotechnologie, Charité | Universitätsmedizin Berlin

„Die Fortschritte bei der Entwicklung von Quantensensoren werden uns erlauben, die Aktivität des Gehirns noch viel präziser zu messen, als es heute ohne die Implantation von Elektroden möglich ist“, sagt Surjo Soekadar. „Damit können wir auch besser aufschlüsseln, wie klinische Symptome und Hirnaktivität zusammenhängen.“ Der 45-Jährige ist Leiter des Forschungsbereichs Translation und Neurotechnologie an der Berliner Charité. 2018 wurde er dort zu Deutschlands erstem Professor für Klinische Neurotechnologie berufen.

Die neuartigen Sensoren arbeiten Soekadar zufolge auf Basis von Diamanten. Sie messen kleinste Magnetfelder und lassen sich dabei nicht vom Schädelknochen stören. Sie müssen nicht bei einer gefährlichen Prozedur im Hirn verankert werden, sondern können auf der Kopfhaut verbleiben. Darüber hinaus funktionieren diese Sensoren auch im Erdmagnetfeld und müssen nicht mehr aufwendig dagegen abgeschirmt werden. „Damit haben wir die Möglichkeit, diese Technologie in eine breitere Anwendung zu bringen“, sagt Soekadar.
Lesen Sie auch:
Elon Musk will Gehirn an den Computer anschließen

Bisher waren Mensch-Maschine-Schnittstellen teuer und kompliziert. Für die Mehrzahl der Patienten waren sie nicht geeignet. „In Zukunft könnte das anders sein“, sagt Soekadar. Der Psychiater hofft, vielen Patienten damit helfen zu können, in Praxen, Kliniken oder auch zu Hause: Menschen wie Annette Dreher, die nun nach Jahrzehnten ihre rechte Hand wieder einsetzen kann.

Große Chance auch bei der Behandlung von Depressionen

„Von unseren Schlaganfallpatienten konnten einige nach einem Monat Training mit dem neuen System sogar ohne Exoskelett Hände und Finger wieder bewegen“, sagt Soekadar. Die Aktivierung der Nervenzellen habe zu einer Reorganisation des Gehirns geführt. Dies sei eine große Chance nicht nur für die Behandlung der Spätfolgen eines Schlaganfalls, sondern auch bei der Therapie psychiatrischer Erkrankungen, so der Experte.

In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, aber auch an anderen Universitätskliniken in Deutschland werden diese Erkenntnisse bereits in Therapien umgesetzt. Bei der Behandlung von Depressionen, Zwangsstörungen oder akustischen Halluzinationen zum Beispiel. Während einer sogenannten repetitiven Transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) wird für wenige Hundert Mikrosekunden ein Magnetfeld über dem Kopf der Patienten aufgebaut. In einer drei- bis neunminütigen Behandlung können so 600 bis 1800 magnetische Impulse an das Gehirn abgegeben werden.

Professor Surjo Soekadar in einem Labor der Charité.
Professor Surjo Soekadar in einem Labor der Charité. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

„Durch die wiederholte Stimulation ändert sich die Hirnaktivität“, sagt Soekadar. „Wir können Depressionen nicht heilen, aber Symptome lindern.“ Wird das Verfahren intensiv eingesetzt, spürten acht von zehn Patienten bereits wenige Tage nach Behandlungsbeginn eine Verbesserung. Die rTMS werde begleitend zur medikamentösen Therapie und Psychotherapie eingesetzt. Für Klinikpatienten ist sie bereits Kassenleistung, für den ambulanten Einsatz noch nicht.
Lesen Sie auch: Studie zeigt positive Wirkung von LSD bei Depressionen

Parallel forschen Surjo Soekadar und sein Team weiter. In Zukunft wollen sie die Gehirnaktivitäten noch genauer und in Echtzeit messen, um diese auch in Echtzeit beeinflussen zu können. „Es gibt in der Medizin für Gehirn-Computer-Schnittstellen sehr viele denkbare Anwendungsgebiete“, sagt Soekadar. Zur Behandlung von ADHS zum Beispiel und vielleicht auch von Suchterkrankungen. Darüber hinaus könnten sie dazu beitragen, das eine oder andere Rätsel des Gehirns mit seinen Milliarden Nervenzellen und vielen Botenstoffen zu lösen. Soekadar: „Wir wissen zwar schon sehr viel über das Gehirn, aber wir haben es noch wenig verstanden.“