Braunschweig. Menschen, die noch nie im Theater waren, können eine Erfolgskomödie kostenlos erleben. Was steckt hinter der wohl beispiellosen Aktion?

Die Idee war nicht die ihre, räumt Generalintendantin Dagmar Schlingmann ein. „Sie kam aus der Abteilung für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Aber ich fand sie sofort klasse.“ Auch das Interesse der Medien und der Branche an dieser Promo-Aktion, die ihres Wissens bisher beispiellos ist, sei groß: Das Staatstheater bietet am 25. April eine Sondervorstellung des aktuellen Erfolgsstücks „Stolz und Vorurteil (oder so)“ an – exklusiv für Menschen, die noch nie oder zumindest sehr lange nicht mehr im Theater waren. Bei freiem Eintritt. Interessierte sollen per Mail lediglich kurz begründen, warum sie das Angebot wahrnehmen wollen.

Das Stück selbst, eine so liebevolle wie quirlige Verulkung des englischen Romanklassikers „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen, geschrieben von der jungen schottischen Autorin Isobel McArthur, hat die ungewöhnliche Werbeaktion gar nicht nötig. „Es war regelmäßig ausverkauft, so dass wir schon Zusatzvorstellungen angesetzt haben, für die die Karten auch schon wieder knapp werden“, sagt Staatstheater-Sprecher Johannes Ehmann. Mit ihrem hohen Unterhaltungsfaktor eröffne die poppig-feministische Komödie aber einen guten Zugang für Menschen, „die Berührungsängste oder eben Vorurteile gegenüber dem Theater an sich haben“, sagt Intendantin Schlingmann.

So bewirbt man sich um die Gratis-Karten

Wer an Freikarten für sich und eine Begleitperson für die Sondervorstellung von „Stolz und Vorurteil (oder so)“ am 25. April interessiert ist, kann sich bis 9. April per Mail an aktion@ staatstheater-braunschweig.de bewerben.

Bewerber müssen lediglich ihren vollen Namen nennen und angeben, warum sie dem Theater nun eine Chance geben wollen. Die Aktion läuft auf Vertrauensbasis, die bisherige Theaterabstinenz muss nicht nachgewiesen werden.

Die Freikarten werden unter allen eingegangenen E-Mails verlost und nach Einsendeschluss zugesandt.

Ein paar Beispiele für bereits eingegangene Bewerbungen: „Hallo, ich war das letzte Mal vor ca 30 Jahren im Theater zum Musical Anatevka. Seitdem nie wieder. Warum? Wahrscheinlich kein Interesse, keine Zeit oder eine andere Ausrede. Momentan sitze ich mit einem gebrochenem Handgelenk zu Hause und bin, da ja sehr viel Zeit vorhanden ist, auf Ihre Aktion aufmerksam geworden. Ich könnte mir vorstellen, dass ich Spaß an einer Komödie habe und mich für weitere Stücke interessieren könnte.“

„Vielen Dank für diese Aktion, ich freue mich, teilnehmen zu dürfen! Früher (vor mehr als 30 Jahren) habe ich oft und gern Theateraufführungen besucht. Durch Krankheit und daraus folgender Erwerbsunfähigkeitsrente fehlt mir seit langem das Geld für so schöne Dinge wie einen Theaterbesuch.“

Originelle Angebote für Besucher haben Tradition

Zu den Vorurteilen zähle etwa, dass Theater zu teuer sei. Dabei sei es nicht teurer als Kino: Die günstigste nicht ermäßigte Schauspielkarte koste 10, die günstigste Musiktheaterkarte 15 Euro. Und auch wegen der Garderobe oder der Etikette müsse man sich keine Sorgen machen. Man könne längst ungezwungen kommen.

Es sei ihrem Haus ein Daueranliegen, neue Wege zu finden, um das eigene Angebot an so viele Menschen wie möglich heranzutragen: „Eigentlich wollen wir Theater für alle machen“, betont Schlingmann. In jüngerer Vergangenheit habe man etwa Friseurinnen und Friseure zu Sonderkonditionen eingeladen, die OperDer Barbier von Sevilla“ zu besuchen, oder Pflegekräfte zu einer Vorstellung der Produktion „Vergessen, dass...“, in der es um Demenz ging.

Staatstheater-Intendantin Dagmar Schlingmann.
Staatstheater-Intendantin Dagmar Schlingmann. © Sierigk, Peter Sierigk, Peter | Peter Sierigk

Staatstheater Braunschweig – von allen Steuerzahlern mitfinanziert

Theater für alle – tatsächlich wird das Staatstheater ja auch von der Allgemeinheit finanziert. Für knapp zwei Drittel des Etats von rund 35 Millionen Euro jährlich kommt das Land auf, für knapp ein Drittel die Stadt Braunschweig. Das Theater selbst erzielt u.a. durch Kartenverkäufe Einnahmen von etwa 4 Millionen Euro jährlich.

Doch während alle Steuerzahlenden das Vier-Sparten-Haus mittragen, besucht nur ein kleiner Teil die Vorstellungen. Im vergangenen Jahr etwa haben laut Staatstheater gut 22.000 Menschen Einzeltickets gekauft (einige natürlich mehrfach). Hinzu kommen knapp 3000 Abonnenten. In Braunschweig leben aber knapp 250.000 Menschen, im Großraum rund eine Million.

Die vom Staatstheater in Auftrag gegebene Erhebung habe aber auch ergeben: „Selbst unter Menschen, die das Haus nie besuchen, gibt es einen gewissen Stolz darauf, dass Braunschweig über ein großes Theater verfügt.“ Auch aus diesem Grund, sagt Schlingmann, lohnten sich Angebote und Kooperationen, bei denen man weit aus dem eigenen Umfeld heraustrete. Großveranstaltungen wie das mangels Sponsor mittlerweile eingestellte Open Air „Klassik im Park“ etwa, „Pop meets Classic“ in der VW-Halle oder die Freiluft-Oper auf dem Burgplatz. „Das gilt auch, wenn die Zahl der Menschen, die ein Burgplatz-Opern-Erlebnis zum Besuch einer Opernvorstellung im Großen Haus animiert, relativ gering ist.“

Theaterzuschauer in Braunschweig: Zahlen und Fakten

In der Spielzeit 2022/23 zählte das Staatstheater insgesamt rund 150.000 Besuche. Hinzu kommt die Burgplatz-Oper mit rund 25.000 Besuchenden.

2848 Abonnenten, die je nach Abo vier bis zehn Vorstellungen besuchen, zählt das Staatstheater in der aktuellen Spielzeit.

Etwa 85 Prozent der Besucher kommen laut Erhebungen des Staatstheaters aus Braunschweig und der näheren Umgebung.

2023 haben laut Staatstheater 22.285 Menschen Einzelkarten gekauft (Schulgruppen ausgenommen).

Rund 70 Prozent von diesen Kundinnen und Kunden waren einmal im Theater zu Gast, gut 15 Prozent zweimal, knapp 15 Prozent drei bis zehnmal und knapp ein Prozent mehr als zehn Mal.

Ungewöhnlich – die Zahl der Abonnenten in Braunschweig

Im Branchenvergleich ungewöhnlich sei übrigens die relativ geringe Zahl an Abonnenten in Braunschweig, sagt Schlingmann. Das habe offenbar immer noch mit einem massiven Einbruch der Abozahlen infolge der Theaterkrise Mitte der 90er Jahre zu tun – damals vergraulte der Kurzfrist Intendant Jürgen Flügge mit einem radikalen Modernisierungskurs zahlreiche Stammbesucher. Dafür laufe das Geschäft mit Einzeltickets ungewöhnlich gut. Insgesamt könne sie im bundesweiten Vergleich mit den Besucherzahlen durchaus zufrieden sein, so Schlingmann. „Dass das Große Haus manchmal so leer aussieht, liegt eben auch daran, dass es mit knapp 900 Plätzen vergleichsweise wirklich groß ist.“

Bei Erfolgsproduktionen wie „Carmina Burana“ ist es trotzdem ständig ausverkauft. Auch für die Premiere der „Dreigroschenoper“ am 24. März gibt es keine Karten mehr. Dass herausforderndere, vielleicht auch zu verkopfte oder gewollt avantgardistische Abende teils eher spärlich besucht werden, räumt Schlingmann ein. Aber so sehr sie Komödien schätze, müsse ein großes Staatstheater Vielfalt und auch anspruchsvolle Produktionen bieten. „Wobei sich Anspruch und Erfolg keinesfalls ausschließen“, meint die Intendantin.

Übrigens: Wenn die Gratis-Aktion mit „Stolz und Vorurteil (und so)“ richtig gut laufe, könne sie auch wiederholt werden. Vielleicht sogar im Großen Haus.