Braunschweig. Man kann die Welt nicht reparieren, wenn man nur einen Hammer zur Hand hat. Das gilt in Braunschweig auch, kommentiert Leonard Hartmann.

In gewisser Weise hat die Polizei bereits verloren. Auch wenn sie irgendwann beweisen könnte, dass alle gegen die Beamten erhobenen Vorwürfe frei erfunden waren, würde das nicht mehr viel ändern. Die Meinung der meisten Fans, die den Auseinandersetzungen hinter der Südkurve des Eintracht-Stadions nach dem Zweitliga-Spiel gegen Hertha zusahen oder von ihnen hörten, ist eindeutig: Das war ein aus dem Ruder gelaufener Einsatz.

Die Polizei hat eine intensive Aufarbeitung angekündigt, beinahe versprochen. Sie ist diese allen Beteiligten schuldig. Sie hat im Prozess der Aufklärung aber einen entscheidenden Nachteil, der früher keiner war: Sorgfalt. Diese bedarf Ruhe und Zeit. Attribute, die in unserer heutigen Informationsgesellschaft aber ins Hintertreffen geraten sind, weil es um Schnelligkeit geht. Nicht mehr der tiefgründige Kommentar sahnt die meiste Zustimmung ab, sondern der schnellste und polarisierendste. Ob die Behauptung stimmt, oder nicht? Egal. Hauptsache, die Pointe sitzt und die Performance stimmt. Und überhaupt: Die Lüge ist einmal um die Welt, bevor sie von der Wahrheit eingeholt werden kann.

Donald Trump könnte trotz allem wieder US-Präsident werden

Wahrheit. Noch so ein Begriff, der plötzlich anfechtbar ist. Wie Fakten es auch sind. Da schaffen sich Leute individuelle Wahrheiten oder alternative Fakten und finden damit Gehör – und Anhängerschaft. In den USA trotteln Millionen einem Lügner hinterher, der unglaublicherweise noch einmal die Chance haben wird, Präsident zu werden. Donald Trump hat es nicht so mit der Wahrheit, mit Fakten auch nicht, aber er ist einfach ein Performance-Genie. Hauptsache, die Pointe sitzt.

Zurück nach Braunschweig. Die Polizei hat wie wir Medien den Auftrag, die Wahrheit ans Licht zu bringen und kämpft damit für die eigene Glaubwürdigkeit. Was dabei selten hilft: Schwammigkeit, wenn wirklich Fehler passiert sind. Der Polizeieinsatz hinter der Südkurve hat offenbar Verletzte, die nicht alle im Bereich der gewaltbereiten Anhängerschaft zu verorten sind, nach sich gezogen. Und wenn Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens nun davon spricht, dass „kein Fehlverhalten im taktischen Vorgehen der Polizei festgestellt werden konnte“, dann muss das für die Verletzten und deren Angehörigen wie blanker Hohn klingen.

Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens im BZ-Interview, am 7. März, in ihrem Dienstzimmer in Hannover 
Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens im BZ-Interview, am 7. März, in ihrem Dienstzimmer in Hannover  © Dirk Breyvogel/ Dirk Breyvogel | DIRK BREYVOGEL/FMG Niedersachsen

Die SPD-Politikerin stellt sich damit hinter die Beamten und stärkt sie intern. Behrens hat offenbar Ambitionen, schielt womöglich auf das Amt des Ministerpräsidenten, das bald vakant wird, wenn Stephan Weil es abgibt. Behrens scheint sich dafür zu profilieren und in Stellung zu bringen, ihre klare Kante gegen Problem-Fans kommt in weiten Teilen der Bevölkerung gut an. Doch verkennt sie mit ihrer öffentlichen Entlastung der Polizei nicht, dass hinter der Südkurve auch Polizisten zu Tätern geworden sein könnten?

Es lohnt sich, ihre Aussage genau zu lesen. Dass es keine taktischen Fehler im Gesamtkonstrukt gab, heißt noch lange nicht, dass es nicht doch zu individuellem Fehlverhalten in der Umsetzung gekommen sein kann. Und diese Fälle müssen einfach aufgeklärt werden und je nach Beurteilung auch Konsequenzen nach sich ziehen. Dieser Prozess muss öffentlich geschehen. Um die eigene Glaubwürdigkeit zu sichern und die Tür zur organisierten Fanszene wenigstens wieder ein bisschen zu öffnen. Aktuell ist diese Tür, so ist nach den Vorkommnissen hinter der Südkurve zu hören, fest zugeschlossen. Schlüssel umgedreht und weggeworfen.

Die Corona-Pandemie wirkte wie ein Katalysator auf das Verhältnis

Wie ist die Situation zwischen Fans und Polizei aufzulösen? Prallen hier zwei Welten aufeinander, die von jetzt an wie gleich gepolte Magneten nicht mehr zueinander finden? Und warum ist das Verhältnis aktuell so mies wie schon lange nicht mehr?

Letzteres liegt auch an der Pandemie. Man muss es nicht verstehen, aber sollte es respektieren, dass für viele Menschen der Fußball in Gänze und der Lieblingsverein im Speziellen nicht weniger als der Mittelpunkt des Lebens ist. Fans leben förmlich für ihre Farben – und das ist nicht übertrieben. Ihnen wurde in den Monaten abgeschotteter Fußballstadien ein Teil der Lebensgrundlage entzogen. Auch andere soziale Begegnungsstätten waren für sie nicht zugänglich. Sie fühlten sich eingeschränkt von einem Staat, dessen Vertreter im öffentlichen Raum Polizisten sind, die umsetzen müssen, was von oben kommt.

Das Derby zwischen Braunschweig und Hannover steht erst noch an

Das ist auch ein Grund dafür, dass sich die Spannungen zwischen Teilen der Fanszene und Polizisten immer häufiger entladen. Braunschweig hat das Problem längst nicht exklusiv. Die Konflikte ziehen sich durch die gesamte Fußballrepublik und scheinen nicht abzuebben. Ganz im Gegenteil. Es wird immer schlimmer. Und das Derby zwischen Braunschweig und Hannover kommt erst noch. So wie die Europameisterschaft im Sommer, für die sich noch Israel oder Ukraine qualifizieren können. Nur mal so nebenbei.

Behrens pocht berechtigterweise auf die Verantwortung der Klubs. Die sollten in Einzelfällen auch konsequent dem eigenen Anhang gegenüber sein. Nicht kollektiv vorgehen, aber individuelle Problemfälle könnten ausgeschlossen werden. Ist das so einfach? Auch dieses Spannungsfeld ist aufgeladen. Denn wer sperrt schon gern die eigenen Fans aus? Jene, die ihr letztes Hemd geben für ihre Farben und weitaus mehr investieren als nur Geld. Und welcher Vereinsmitarbeiter setzt diesen Schritt durch, einem Fan das zu nehmen, was ihm ein Teil des Lebens bedeutet? Und der womöglich nicht lang fackelt, wenn ihm das genommen wird?

Alle Seiten müssen aufeinander zugehen

Verständnis füreinander würde helfen, bleibt aber wohl nur ein naiver Gedanke. Wenn aber Fehler öffentlich eingestanden werden, dann öffnen sich Türen wieder, die aktuell fest verschlossen scheinen. Die Fehleranalyse der Polizei muss sorgfältig sein, sie braucht Zeit, das ist klar. Aber sie muss auch umgehend erfolgen, möglichst zeitnah. Und sie muss gegebenenfalls Konsequenzen nach sich ziehen. Das muss der Rechtsstaat leisten. Aber auch die Klubs und ihre Fans stehen generell in der Verantwortung, Brücken zu bauen, Fehler anzuerkennen und Lösungen anzubieten.

Für alle drei Seiten – Polizei, Klubs, Fans – gilt: Man kann die Welt nicht reparieren, wenn man nur einen Hammer zur Hand hat. Das gilt für diese Situation hier genauso.

Mehr wichtige Nachrichten zu Eintracht Braunschweig lesen:

Täglich wissen, was bei Eintracht Braunschweig passiert: