Wahrenholz. Gleich einem Wolf zu begegnen, wäre wohl etwas zu viel Reporterglück gewesen. Doch immerhin fanden wir bei Wahrenholz seine Hinterlassenschaft.

Der Angriff kommt völlig unerwartet. Schutzlos stehen wir auf dem Forstweg. Man kann schon sagen: Sie stürzen sich auf uns. Aber da müssen wir jetzt durch. Zumal wir fast am Ziel sind… Zugegeben, das Wort „Angriff“ ist etwas übertrieben. Auch dass mir plötzlich der schöne Spruch von Bertolt Brecht einfällt – „Den Haien entrann ich, die Tiger erlegte ich. Aufgefressen wurde ich von den Wanzen“ – mag albern sein. Doch mit den Mücken im Wald bei Wahrenholz im Gifhorner Nordkreis ist tatsächlich nicht zu spaßen. Jochen Remitz hat gleich zwei auf der Stirn sitzen, und mir geht‘s schneller an die Unterarme, als ich wedeln kann.

Doch jetzt sind wir wirklich am Ziel. Wir schauen uns das an, was nur ein Ignorant als „Stück Scheiße“ bezeichnen würde. Wir nennen es „Losung“. Wolfslosung, um genau zu sein. „Ich bin fast hundertprozentig sicher“, sagt Jochen Remitz. Der Haufen liegt mitten auf dem Weg bei einer Art Abzweigung, das sei schon mal typisch für die Markierung eines Wolfsreviers.

Auch die vielen Haare und Knochensplitter in der Hinterlassenschaft, sogar ihr Geruch lassen es höchst unwahrscheinlich erscheinen, dass sich hier ein Hund erleichtert hat. Aber natürlich ist Jochen Remitz mit Wahrscheinlichkeiten nicht zufrieden. Er holt jetzt ein kleines Gläschen mit alkoholischer Flüssigkeit aus der Tasche. Darin wird er etwas Losung ins Labor schicken. Die DNA-Untersuchung wird näheren Aufschluss ermöglichen. Ist das Tier männlich oder weiblich („Fähe“ nennt man die Wölfin in Fachkreisen) und vor allem: Ist es Teil eines Rudels, über das man schon Bescheid weiß? Oder bestätigt sich der Verdacht, dass es Verschiebungen gibt – oder sogar ein neues Rudel das „Vakuum“ besiedelt, das Remitz in der Wahrenholzer Gegend ausgemacht hat?

Der Wolfsberater plant ohnehin eine größere und systematische Suche nach Losung. Ein neues wäre das vierte Rudel in dem gut anderthalbtausend Quadratkilometer großen Landkreis Gifhorn. Für ganz Niedersachsen geht man von 39 Rudeln mit jeweils bis zu zehn Tieren aus. Ein Rudel besteht aus dem Elternpaar und dessen Nachkommen, die den Laden meist im zweiten Lebensjahr verlassen. Zuweilen werden jüngere rudelfremde Wölfe geduldet. Die Zahl der aufwendig beobachteten, aber nicht besenderten Tiere in ganz Niedersachsen wird aktuell auf vierhundert geschätzt, Tendenz stark steigend.

Jochen Remitz zeigt – mitten auf dem Forstweg – die Hinterlassenschaft eines Wolfes. Das kleine Foto zeigt Haare und Knochensplitter im Kot.
Jochen Remitz zeigt – mitten auf dem Forstweg – die Hinterlassenschaft eines Wolfes. Das kleine Foto zeigt Haare und Knochensplitter im Kot. © Jürgen Runo

Einmal einen Wolf bejagen...

Waaaas? Schon vierhundert? Ja, was von dieser Zahl und dieser Tendenz zu halten ist, muss erörtert werden. Aber erstmal wollen wir wissen, wie sich Jochen Remitz grundsätzlich an das spezielle Thema herangepirscht hat, wie so einer „Wolfsberater“ geworden ist, was ja immer so klingt, als bräuchten Wölfe gute Ratschläge für Zahnpflege oder Aggressionsabbau. Wir haben vor dem Treffen herumgefragt: Wer hat denn wirklich Ahnung? Die Antworten führten in den Gifhorner Nordkreis. Remitz ist hauptamtlich Förster und ehramtlich Wolfsberater. Er sitzt jetzt in seinem Arbeitszimmer in Wahrenholz, dem blau-gelb geschmückten Ort, was allerdings noch mit dem Schützenfest zu tun hat. Im Regal: diverse Bücher über den Wald und über Wölfe sowie das Skelett eines Wildschweinschädels. Zwischendurch ruft ein Jäger an. Er habe einen Wolf vom Hochsitz aus gefilmt. „Schick’s ruhig, das schaue ich mir gern an“, sagt Remitz freundlich.

Der freundliche Herr Remitz, geboren 1957 in Stadthagen, stammt aus einer landwirtschaftlich tätigen Familie. Als Jugendlicher, erinnert er sich, habe er einen Traum gehabt: einmal einen Wolf zu bejagen… „Heute weiß ich, dass ich niemals auf einen Wolf schießen werde. Ich habe viel zu viel Respekt vor diesen besonders sozialen Tieren“, sagt Remitz. Vor allem die aufopferungsvolle Aufzucht der Welpen durch beide Elterntiere beeindrucke ihn immer wieder. Er hat jede Menge gelesen über den Wolf, Bücher, Fachartikel, das ganze Programm, selbst diverse Vorträge gehalten vor den verschiedensten Zuhörern. Er war zweimal seinetwegen in Alaska und einmal im Yellowstone-Nationalpark und erinnert sich an die Gänsehaut, als des Nachts das Wolfsgeheule zu vernehmen war. „Wer das mal gehört hat…“, sagt Remitz und macht eine effektvolle Pause.

Faszination: durchaus. Kitsch: nö, Panikmache: auf keinen Fall, so ließe sich seine Haltung zusammenfassen. Er ist keiner derjenigen, die aus lauter Liebe zu „Canis lupus“ die Sorgen von Weidetierhaltern einfach abtun. Mehrfach macht er auffallend vorsichtige Bemerkungen „Ich fühle mich nicht als absoluten Fachmann. Wir alle haben noch viel zu lernen über diese Tiere.“

Der alte Hass auf das „Untier“

Remitz ist schon lange dabei, er gehörte zu den ersten 25 Wolfsberatern in Niedersachsen. „Ich verrate Ihnen mal was“, sagt er, „auch wenn einige das vielleicht nicht zugeben würden: Keiner von uns hat damals gedacht, dass er sich hier so vermehren würde.“ Mit „damals“ meint er das Jahr 2008, als Niedersachsen, begleitet von hitzigen Diskussionen, ernsthaft anfing, sich mit den einst ausgerotteten, sozusagen zurückgekehrten Tieren zu befassen.

Ausgerottet? Und ob! Es ist in Sachen Wolf immer sinnvoll, im Sinne eines kurzen Einschubs die kulturgeschichtlichen Schwingungen im Hintergrund anzudeuten. Der Historiker Dr. Gerd von den Heuvel hat in seinem Aufsatz „Wie der Wolf aus Niedersachsen verschwand“ (als halbstündigen Vortrag gibt es das auf Youtube) dargelegt, welch eine Riesensache hier jahrhundertelang die Wolfsjagd war. In keiner anderen Hinsicht, meint der Historiker, sei der vormoderne Staat so erfolgreich gewesen wie bei der Ausrottung des Wolfes. Zwar stehe außer Zweifel, dass die Vermehrung der Tiere während des Dreißigjährigen Krieges ein echtes Problem darstellte; allein im Fürstentum Celle registrierte man Mitte des 17. Jahrhunderts innerhalb von vier Jahren den Abschuss von 900 Wölfen. Aber nicht nur, weil Angriffe auf Menschen auch damals so gut wie nie vorkamen, weist die Intensität der Wolfsbekämpfung über eine bloße Gefahrenabwehr hinaus. Gerd von den Heuvel belegt zum einen, inwieweit die Wolfsjagd ein Geschäft und eine Gaudi war. So stellte der Herzog August der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel 1651 fest, dass ständig „sonderbare Wolfsjagden“ veranstaltet würden, die nicht nur „ohne Nutz“ seien, sondern sich vor allem durch „kontinuierliches Fressen und Saufen“ auszeichneten. Zum anderen bezeugen viele Quellen, wie sehr der Wolf zur Projektionsfläche der Ängste wurde.

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Umfrage: Votum für Obergrenze

Als furchtbar, als böse, ja als sündhaft empfand man dieses von „Blutdurst“ getriebene „Untier“, diesen grausamen „Würger“ und Erzfeind. Das änderte sich auch nicht, als die Zahl der Wölfe im 18. Jahrhundert zurückging. Nurmehr kleine Rudel und Einzeltiere tauchten auf und wurden mit enormem Aufwand gejagt, zum Teil mit bis zu 1000 Treibern und Helfern. Sogar „Wolfsgalgen“ wurden errichtet, um sich des Scheusals im Zuge einer regelrechten Hinrichtung zu entledigen. Ein groteskes Nachspiel in dieser Hinsicht gab es übrigens 1948. Da löste ein als „Der Würger vom Lichtenmoor“ berüchtigter Wanderwolf in der Lüneburger Heide die blanke Hysterie aus, bis er von Tausenden Polizisten und britischen Soldaten verfolgt und schließlich von einem Bauern erschossen wurde.

Heute, so sagt es Jochen Remitz in seinem schattigen Arbeitszimmer, funktionierten das „Monitoring“ und das „Wolfsmanagement“ im Ganzen gut. Politik, Jägerschaft, Wolfsberater, die Zusammenarbeit sei entscheidend. Indem der Wolf kranke Rehe oder Wildschweine erbeute, wirke er sich positiv auf den Genpool der Wildtiere aus. „Es ist gut, dass er da ist, aber natürlich gibt es Probleme, jetzt und in Zukunft.“ Und die Sorgen der Weidetierhalter? Vor gut einem Jahr gab es eine vom Landvolk angeregte Umfrage, derzufolge zwar zwei Drittel der Befragten die Rückkehr des Wolfes grundsätzlich begrüßen. Zugleich sprachen sich mehr als zwei Drittel für eine Kontrolle der Population und eine Art Obergrenze aus.

„Die Schreie des Lamms“

Auch Remitz tendiert dazu, dass eine Grenze festgelegt werden sollte. Er bedauert, dass die Tierhalter nicht von Anfang an mehr Gehör gefunden hätten, und findet unter Umständen die „Entnahme“ von Problemwölfen in Ordnung, wie sie jetzt durch die Veränderung des Jagdrechts in Niedersachsen leichter möglich ist. Tatsächlich findet man im Netz blitzschnell diverse seriöse Berichte über jüngst gerissene Weidetiere in Niedersachsen. Anfang April bei Rethen im Kreis Gifhorn wurde eine Alpaka-Stute getötet. Und immer wieder gibt es tote Schafe. Mitte April am Ortsrand von Gifhorn-Wilsche. Oder Ende Mai bei Osnabrück, mit Dutzenden toter Tiere – und gruseligen Fotos von Mutterschafen mit Kehlbissen und von Totgeburten. Und Mitte Juni im Kreis Osterholz sollen Wölfe sogar einen 1,80 Meter hohen 10.000-Volt-Elektro-Zaun überwunden haben, bevor die Schafe dran glauben mussten. Auf einschlägigen Facebook-Seiten geht es entsprechend hart zur Sache. „Wie viele selbsternannte Zaunfachexpterten rennen noch los, um den Weidetierhaltern die Welt des Zaunbaus näher zu bringen?“, schreibt da jemand, „wer von euch sitzt jetzt da und überhört die herzzerreißenden Schreie des Lamms?“ In Osttirol experimentiert eine Firma jetzt mit Elektro-Halsbändern, die Schafen umgelegt werden, um Wölfe von tödlichen Angriffen abzuhalten. „Es ist schwierig“, sagt Remitz, „aber vielleicht eine interessante Idee – und natürlich müssen die Weidetierhalter in der Diskussion mitgenommen werden.“

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Und die Menschen? „Nahbegegnungen“ nennen Kenner wie Remitz das, wenn etwa ein Spaziergänger plötzlich einem Wolf gegenübersteht. Derlei hält der Berater für sehr unwahrscheinlich, Wölfe seien viel zu scheu. Er selbst, der jeden Tag entsprechend Ausschau hält, habe zuletzt vor einem Dreivierteljahr aus dem Auto einmal ein Tier entdeckt – in fünfzig Metern Entfernung. Sein Tipp für den Fall der Fälle ist übrigens, ganz schnell die Idee zu verwerfen, mit dem Smartphone einen Superfilm zu machen, und stattdessen laut schreiend und, wenn möglich, Gegenstände schmeißend wegzugehen, mit dem Gesicht Richtung Wolf und schön langsam, um bloß keinen Verfolgungsimpuls auszulösen...

Auf dem Rückweg aus dem Wald, ich mit immer noch juckenden Unterarmen, rollen wir durch den Ort Wahrenholz. Ja, er werde hier oft, eigentlich bei jeder Gelegenheit auf das Thema angesprochen, erzählt Remitz. „Es gibt manchmal schwierige Diskussionen“, ergänzt er, „in ländlichen Gegenden natürlich viel mehr als in der Stadt.“ In einem halben Jahr wird Jochen Remitz aus dem Forstdienst ausscheiden. Aber ehrenamtlicher Wolfsberater wolle er zunächst mal bleiben. „Da ist noch sehr viel zu tun.“