Osterode. Was im Wahlprogramm der Grünen steht – und was es mit „Disco-Mobilität“ auf sich hat.

215 Seiten. Zweihundertfünfzehn Seiten lang ist das Wahlprogramm der Grünen zur niedersächsischen Landtagswahl – und damit wenigstens rekordverdächtig. Selbst das Kurzwahlprogramm in leichter Sprache dehnt mit 39 Seiten den Begriff „kurz“ ziemlich weit. Dabei konnten sich die Grünen nur selbst schlagen: Schon 2017 zählte das Programm 199 Seiten. Aber was braucht da so verdammt viel Platz?

Da ist vor allem das Klima zu nennen. 307 mal taucht es als Wort im Programm auf. Mal alleine, mal als Kompositum wie „Klimaschutz“ oder „Klimakrise“; manchmal auch in neuen, etwas eigenwilligen Wortkreationen wie „Klimaverweigerung“. Das beziehen die Grünen auf die SPD-CDU-Landesregierung oder vielmehr auf deren Politik, es müsste wohl „Klimaschutzpolitikverweigerung“ heißen, das Klima verweigert man schließlich nicht. Ob das korrekte(re) Wortmonstrum jedoch eine bessere Wahl gewesen wäre, sei mal dahingestellt.

Ist die hohe Seitenzahl eine politische Forderung?

Andere Wortschöpfungen sind da schon zugänglicher, zum Beispiel „Disco-Mobilität“. Die zielt auf verknüpfte Nahverkehrsangebote, damit junge Menschen auch in ländlichen Räumen „an Kultur, darunter auch Klub- und Discobesuchen“ teilhaben können. Das ist aber schnell erzählt und insofern keine Erklärung für den Umfang des Grünen-Wahlprogramms.

Vielleicht hilft ein Blick in die Kapitel: Das längste zählt 16 Seiten und widmet sich der Agrarpolitik. Darin geht es um nachvollziehbare Forderungen wie gute Lebensmittelqualität und auskömmliche Bedingungen für Landwirte. Aber auch zum Beispiel um Agri-PV, also die gleichzeitige Nutzung von Flächen für landwirtschaftlichen Anbau und Photovoltaikanlagen – eine Technologie, an der sowohl Bauern- als auch Naturschutzverbände ihre Zweifel haben. Hätte man die vorher befragt, wäre das Programm schon ein bisschen kürzer geworden.

Die hohe Seitenzahl könnte aber auch selbst eine politische Forderung sein. Mit „So wird’s besser“ ist das Wahlprogramm überschrieben, und ein 215-seitiges „So“ insinuiert: Es ist so viel zu tun, damit es besser wird, auf weniger Platz ist es nicht unterzubekommen. Das würde dem Programm aber eine präzise Wortwahl unterstellen – das Thema wurde eingangs beschrieben.

Mehr Flächen für den Rad- und Fußverkehr

Zwar gestehen die Grünen ein, „dass selbst bei größter Anstrengung für eine Verkehrsverlagerung auf Bus, Bahn und Fahrrad der Pkw weiterhin einen relevanten Anteil im Mobilitätsmix haben wird.“ Den Autoverkehr wollen sie aber einschneidend umstellen: „In unseren Städten und Dörfern wollen wir den Raum neu aufteilen und damit mehr Flächen für den Rad- und Fußverkehr und für Begegnungen im öffentlichen Raum schaffen.“ Dafür soll klimafreundliche Fortbewegung so attraktiv gemacht werden, dass Autofahren immer seltener nötig wäre.

Durchaus eine schöne Vorstellung, allein: Es fehlen Konzepte oder Geld, manchmal auch beides. E-Busse sind dreimal so teuer wie Dieselmodelle. Und für dichtere Takte oder „Disco-Mobilität“ fehlt schlicht das Personal. Beim Ausbau des E-Ladenetzes stellt sich vor allem im ländlichen Raum mit tendenziell weniger Ladevorgängen in der Anfangsphase der E-Mobilität noch die Frage der Wirtschaftlichkeit – für private Anbieter könnte der Betrieb mancher Standorte noch eine Zeit lang ein Minusgeschäft sein. Soll der Staat dann die Energiekonzerne bezuschussen? Hier sparen sich die Grünen echte Antworten.

Auch bei der Automobilität ist (un-)präzise Wortwahl wieder ein Thema: Von klimaneutralen E-Autos ist da die Rede. Weder ist deren Produktion klimaneutral, noch deren Betrieb, so lange nicht 100 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Das gilt für den gesamten Strombedarf – wird nur der Ladestrom aus Erneuerbaren gewonnen, verschiebt sich das Problem ja lediglich auf andere Bereiche, die dann mehr konventionelle Energie brauchen. Das sollte dabei stehen – auf 215 Seiten ist Platz genug.

Wählen ab 14: Das dürfte Widerstand geben

Interessant: Die niedersächsischen Grünen wollen das Wahlalter bei Kommunal- und Landtagswahlen auf 14 Jahre absenken. Manche in der Partei fordern gar eine Auflösung jedweder Altersgrenze. Es gibt gute Gründe dafür und dagegen, ein bisschen politisches Kalkül darf man dabei aber auch unterstellen: Die Grünen dürften sich schließlich berechtigte Hoffnungen machen, in diesen Alterskohorten so gut abzuschneiden wie SPD und CDU bei den Alten. Die dürften sich dementsprechend intensiv dagegen wehren.

Was bleibt? Der Veränderungsdrang der Partei zeigt sich auch am Wörtchen „wollen“: Fast 500 mal steht es im Programm. Bei CDU und SPD taucht es keine hundert mal auf. Das hat auch mit der Rolle der Opposition zu tun – natürlich will die mehr. Bei der FDP steht es auch rund 250 mal im Programm, und das ist nur halb so lang.

Außerdem bleibt die Hoffnung auf eine Trendumkehr zu kürzeren Programmen. Dass die Grünen einen weiteren gesetzlichen Feiertag fordern, weil Niedersachsen davon so wenige hat, steht erst auf Seite 62 – so weit sollte für die besten Vorschläge niemand lesen müssen.

Darf nicht fehlen: „Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier mit Biofarben“, steht auf Seite 212. Der Hinweis, am besten gar nicht zu drucken, sondern digital zu lesen, hingegen fehlt.