Göttingen. Ein Gedankenspiel: Alle 185.198 Autos im Landkreis Göttingenwerden elektrisch betrieben. Ist die Infrastruktur dafür schon gewappnet?

185.198 Autos sind im Landkreis Göttingen zu Beginn dieses Jahres zugelassen. 973 davon sind laut Kraftfahrtbundesamt Elektrofahrzeuge. Die Zahl steigt kontinuierlich, 2020 waren es mit 386 weniger als die Hälfte. Laut der Klimaziele des Kreises dürften ab 2040 keine Verbrenner mehr unterwegs sein – der Verkehr soll dann „unabhängig von fossilen Treibstoffen und treibhausgasneutral“ sein. Vor allem zwei Dinge müssen sich für den Erfolg der Mobilitätswende in der Region möglichst schnell bewegen; der Ausbau von Ladeinfrastruktur und regenerativen Energieträgern. Zeit für ein Gedankenspiel: Was würde es bedeuten, wenn ab sofort nur noch E-Mobile durch den Landkreis surrten? Und ist das überhaupt realistisch?

Das Portal goingelectric.de aktualisiert laufend eine interaktive Karte mit den öffentlichen Ladestationen. Aktuell gibt es im Kreisgebiet nur rund 120 davon, ganz genau lässt es sich nicht sagen, für manche liegen Störungsmeldungen vor. Das von der Bundesregierung geförderte standorttool.de gilt als unvollständig und zeigt für das Kreisgebiet noch deutlich weniger Stationen an. Die Verwaltung erhebt keine eigenen Zahlen dazu.

Dass 120 Stationen relativ wenig sind lässt sich auch daran ablesen, dass noch politisch damit geworben wird: Es ist eine Erfolgsmeldung, wenn eine in Betrieb geht. Eine Ladestation ist noch etwas Besonderes. Wer interessierte sich dafür, wenn eine Tankstelle noch eine Zapfsäule aufstellen würde?

Schnellladestationen brauchen viel Strom

Eine Studie im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums rechnet für eine zuverlässige Versorgung mit einem Ladepunkt je 23 Autos im ländlichen Raum, in Städten mit einem je 14 Pkw. Achtung Behördensprech: Ladepunkt meint einzelnen Anschluss – eine Ladestation kann davon mehrere haben. Unter den rund 120 Stromtankstellen im Landkreis gibt es solche mit einem und solche mit zwei oder mehr Anschlüssen, die aber manchmal nur für unterschiedliche Modelle, nicht aber für mehrere Autos gleichzeitig da sind.

Dr. Hjalmar Schmidt und Dr. Thomas Gans nehmen Ende 2018 die erste öffentliche E-Ladesäule in Bad Lauterberg in Betrieb. Noch kann politisch damit geworben werden.
Dr. Hjalmar Schmidt und Dr. Thomas Gans nehmen Ende 2018 die erste öffentliche E-Ladesäule in Bad Lauterberg in Betrieb. Noch kann politisch damit geworben werden. © HK | Katja Koch

250 Ladepunkte im Kreisgebiet sollten sich der Realität großzügig annähern. Bei 185.000 Autos bräuchte der Landkreis Göttingen mehr als 9.500 Ladepunkte. Das sind 38 mal so viele wie es gerade gibt (ausgehend von 250). In einer Umfrage der Unternehmensberatung Alix-Partners gaben 45 Prozent der Befragten als größte Sorge beim Kauf eines Elektroautos die fehlende Ladeinfrastruktur an – „nicht verwunderlich, da die Zahl der E-Autos deutlich schneller wächst als die der öffentlichen Ladesäulen“, heißt es dort.

E-Mobilität funktioniert nur mit erneuerbarer Energie

Doch nicht nur der weitere Ausbau der Ladeinfrastruktur, auch die Stromerzeugung dafür verdient besondere Aufmerksamkeit. Im Landkreis Göttingen gibt es zwar erst eine Handvoll Schnellladestationen, im Altkreis laut goingelectric.de sogar nur eine in Bad Sachsa, die laut Portal noch nicht in Betrieb ist. Für den Erfolg der E-Mobilität werden sie aber maßgeblich sein. Und Schnellladepunkte benötigen viel Strom.

Klar ist: Damit E-Mobilität ihrem wichtigsten Zweck der emissionsfreien Fortbewegung genügt, darf der Strom nur aus erneuerbaren Quellen kommen. Und deren Ausbau stockt. Der Landkreis Göttingen produziert gegenwärtig etwa die Hälfte seines Stromverbrauchs mit erneuerbaren Energiequellen; rund 435.000 Megawattstunden (MWh) produzierte Erneuerbare stehen einem Gesamtverbrauch von knapp 895.000 MWh gegenüber. Ein E-Auto benötigt bei einer laut Kraftfahrtbundesamt durchschnittlichen jährlichen Fahrleistung von 14.000 Kilometern und einem Verbrauch von 15 Kilowattstunden (KWh) auf 100 Kilometern 2.100 KWh im Jahr. Zum Vergleich: Für einen Zweipersonenhaushalt werden jährlich im Schnitt 3.500 KWh Stromverbrauch veranschlagt.

Die 973 E-Autos im Landkreis brauchen demnach etwas mehr als zwei MWh Strom im Jahr, fallen also kaum auf. Wären alle 185.000 Pkw elektrisch betrieben, wären es knapp 390.000 MWh – 90 Prozent aller verfügbaren erneuerbaren Energie. Und die Rechnung ist konservativ. Seit der Kreisfusion sind die Wege in der Region besonders weit und wie der kürzlich veröffentlichte Sozialbericht des Landkreises zeigte, wird viel gependelt. Außerdem dürfte die hügelige Topografie gerade im Harzvorland zu höherem Energieverbrauch führen.

Die offenen Fragen sind der Politik durchaus bewusst

Mit diesem Gefälle zwischen Anspruch und Wirklichkeit geht die Politik zwar nicht hausieren, es ist ihr aber bekannt. Vergangene Woche stellte der niedersächsische Umweltminister Olaf Lies (SPD) einen 10-Punkte-Plan zur Thematik vor: „Es wird nicht ohne den Ausbau der Erneuerbaren gehen.“ Man dürfe außerdem nicht in die Situation kommen, dass der Ausbau der Ladeinfrastruktur zum limitierenden Faktor für den Erfolg und den Absatz von E-Autos werde: „Das wäre fatal für diesen Teil der Mobilitätswende.“ Er sei aber „zuversichtlich, mit dem Ladeinfrastrukturausbau vor die Verbreitung der E-Autos zu kommen.“

Intelligente Netzsteuerung ist unabdingbar

Um Engpässe oder gar Überlastungen lokaler Stromnetze zu vermeiden, werden intelligente Steuerungssysteme zur Lastverteilung entwickelt. Der Niedersächsische Städtetag (NST) als kommunaler Spitzenverband formuliert in einem Positionspapier die Perspektive der Stadtwerke vor Ort: Es sei „geboten, die Verteilnetze insoweit intelligent steuern zu können, als sie für die Spitzenlasten der gleichzeitigen Ladevorgänge nicht hinreichend ausgebaut bzw. belastbar sind.“

Individualverkehr bleibt wichtig im ländlichen Raum

Der Städtetag betont auch die herausgehobene Rolle der Individualmobilität im ländlichen Raum und macht auf ein weiteres Problem für den Ladeinfrastrukturausbau aufmerksam: Im kommunalen Bereich werde nicht jede Ladestation wirtschaftlich betrieben werden können – politische Steuerung und Förderung wird also nötig sein.

Torsten Birkholz, Geschäftsführer des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (BDEW), mahnt bei der Präsentation des 10-Punkte-Plans eine realistische Kommunikation an: „Stromtanken wird nicht ganz gehen wie mit Benzin und Diesel.“ Sein Verband schreibt in einem Forderungskatalog, es dürfe nicht weiter die Erwartungshaltung genährt werden, dass das Laden elektrischer Fahrzeuge die Fortführung des Tankens mit anderen Energieträgern darstelle.

Selbst wenn diese Erwartungshaltung erfolgreich gehemmt werden sollte, werden Autoreisende so wenig Zeit wie möglich an Ladestationen verbringen möchten. So betont auch Jan Arning vom Städtetag, wie wichtig die Schnellladeinfrastruktur sein werde. „Bei der Konzeption und Errichtung von Schnellladestationen sollten im Hinblick auf die Überbrückung von Wartezeiten nicht nur Konsum- und Gastronomiekonzepte, sondern auch Sehenswürdigkeiten, Kulturangebote, Spielplätze oder Parks berücksichtigt werden“, heißt es im Positionspapier des NST dazu.

Ausflugsziele wie der Harz verdienen besondere Aufmerksamkeit

Die Anschaffung von Elektro-Fahrzeugen scheitere heute häufig noch daran, dass befürchtet werde, auf längeren Strecken und im Urlaub keine Ladeinfrastruktur vorzufinden, heißt es weiter. Touristische Ziele seien deshalb besonders in den Blick zu nehmen. Nicht zu unrecht: goingelectric.de zeigt viel unerschlossene Fläche im Harz. Auch an touristischen Zielen wie Torfhaus gibt es demnach bislang nur wenige und vor allem leistungsschwache Ladepunkte. Um auch künftig ein attraktives Urlaubs- und Ausflugsziel zu sein, braucht es also intensiven Ausbau.

Politik und Wissenschaft sind optimistisch

Sowohl in der Politik als auch in der Forschung wird gerade noch viel von „wollen“ und „müssen“ gesprochen, eine nahe Zukunft ohne Verbrenner und mit vielen Autos an Kabeln braucht noch einige Fantasie; das zeigt das Gedankenspiel.

Die Wissenschaft ist aber zuversichtlich, rechtzeitig Lösungen zu finden, um vielleicht nicht jeden Engpass, eine echte Überlastung des Stromnetzes jedoch vermeiden zu können. Darauf stützt sich auch der politische Optimismus. Der Wandel wird bald sichtbar werden. Die Frage, ob sich dann auch weite Teile der Bevölkerung die neue Technologie leisten wollen und vor allem können, ist damit noch nicht beantwortet.