Berlin. Nahostkonflikt und Feiertage alarmieren Polizei und Dienste. Warum die Terrorgefahr jetzt besonders hoch ist, zeigt der Fall Rasul M.

Über ein Ziel fabulieren die Teenager schon. Ein Stripclub, vielleicht. Eine Synagoge geht auch. Ein Weihnachtsmarkt, das erscheint den beiden Jugendlichen das perfekte Symbol für ihren Hass auf die „Kuffar“, die „Ungläubigen“. Rasul M., 16 Jahre alt, und sein 15 Jahre alter Komplize aus Nordrhein-Westfalen chatten über den Messengerdienst Telegram über ihre Terrorpläne. Sie wollen einen Kleinlaster nutzen, gefüllt mit Benzin oder Gas. Und dann in die Menge rasen.

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Über die Pläne der beiden jungen Männer erfahren die Ermittler aus den Chatnachrichten. Später entdeckt die Polizei nach Informationen unserer Redaktion auch eine Anleitung zum Bau eines Sprengsatzes auf sichergestellten Datenträgern von Rasul M. Ende November nimmt ihn die Polizei im brandenburgischen Wittstock und seinen Mitstreiter in NRW fest. Wie konkret ihre Pläne für den Anschlag waren, ermitteln nun die Behörden. Klar ist: Die beiden Teenager redeten sehr detailliert über Gewaltakte in der Weihnachtszeit, einer stellte schon ein Foto eines Transporters in den Chat. Nach der Tat hatten sie offenbar die Idee, sich nach Nord-Afghanistan abzusetzen und sich der Teorrororganisation „Islamischer Staat“ anzuschließen.

Radikale docken mit ihrer Propaganda an den Konflikt zwischen Hamas und Israel an

Unsere Redaktion konnte mit mehreren Beamten sprechen, die mit dem Fall Rasul M. vertraut sind, er steht in einer Reihe von Anschlagsplänen der vergangenen Wochen und Monate. Gerade erst verurteilte ein Hamburger Gericht zwei syrische Brüder, die einen Anschlag auf eine Kirche in Schweden geplant hatten. In Niedersachsen nimmt die Polizei einen 20 Jahre alten Mann fest, auch er soll einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt geplant haben. Im Oktober nehmen Polizisten einen gewaltbereiten Islamisten in Duisburg fest. Im Sommer heben die Sicherheitsbehörden eine Terrorzelle aus, sie nehmen sieben Personen fest. In Österreich schlägt die Polizei Alarm, nimmt vergangene Woche einen 16-jährigen Islamisten fest. Auch hier hatten Behörden Hinweise auf Anschlagspläne.

Oftmals sind die Pläne vor allem in den Köpfen der Dschihadisten. Bei Rasul M. und seinem Komplizen etwa entdeckten die Ermittler keinen Sprengstoff und keine anderen Tatmittel. Das Bundeskriminalamt (BKA) listet den Fall nicht bei „verhinderten islamistisch motivierten Anschlägen“ – ein Zeichen dafür, dass die Pläne noch nicht sehr konkret waren.

Polizisten durchsuchen Wohnungen von mutmaßlichen Hamas-Mitgliedern in Berlin. Gab es Pläne für einen Anschlag auf eine Synagoge in Deutschland?
Polizisten durchsuchen Wohnungen von mutmaßlichen Hamas-Mitgliedern in Berlin. Gab es Pläne für einen Anschlag auf eine Synagoge in Deutschland? © dpa | Paul Zinken

Und doch sehen Polizei und Nachrichtendienste eine neue, gefährliche Dynamik in der islamistischen Szene – ein stetes Wachsen der Gewalt, das sich in den vergangenen Jahren schon zeigte. Und das nun einen neuen Schub erhalten hat: durch den Terror der Hamas vom 7. Oktober und den Krieg mit Israel. Islamisten, türkische Nationalisten, Teile der rechts- und linksextremen Szene, sie alle eint der Hass auf Israel. Erst vor Kurzem nahmen Ermittler mehrere Hamas-Mitglieder fest, die einen Anschlag geplant haben sollen.

Proteste gegen Israel sind emotional. Sicherheitsbehörden sorgen sich davor, dass der Konflikt in Nahost zu einem „Trigger-Moment“ für junge radikale Täter wird.
Proteste gegen Israel sind emotional. Sicherheitsbehörden sorgen sich davor, dass der Konflikt in Nahost zu einem „Trigger-Moment“ für junge radikale Täter wird. © Thomas Banneyer/dpa | Unbekannt

Fachleute sprechen von „Trigger-Momenten“: Ereignisse wie der Krieg in Nahost, der ohnehin gewaltbereiten, meist jungen Tätern einen vermeintlichen Anlass für ihre Tat liefert. Rasul M. aus Brandenburg war schon länger radikal, fiel den Sicherheitsbehörden 2022 erstmals auf, gegen ihn lief zuletzt sogar ein Strafverfahren, weil er „Naschids“ des IS, islamistische Kampflieder, auf Instagram geteilt hatte.

Hinzu kommen nun die anstehenden Feiertage, auch sie können „Trigger-Momente“ für Gewalt sein. „Der Advents- und Weihnachtszeit ist unter Gefährdungsgesichtspunkten grundsätzlich eine besondere Bedeutung beizumessen“, schreibt das Bundesinnenministerium auf Nachfrage. Das BKA hält fest: Die Entwicklungen in Israel seien dazu geeignet, „eine hohe Gefährdungsrelevanz auf die Sicherheitslage in Deutschland zu entfalten“. Vom 7. Oktober bis zum 21. Dezember registrierte das BKA über den Kriminalpolizeilichen Meldedienst rund 2600 politisch motivierte Straftaten in Deutschland, die im Kontext des aktuellen Nahostkonflikts begangen wurden. Davon wurden mehr als 1.100 Straftaten als antisemitisch motiviert eingestuft und im mittleren zweistelligen Bereich auch muslimfeindliche Delikte – darunter jeweils vor allem Sachbeschädigungen und Volksverhetzung.

Der Verfassungsschutz spricht von einer „komplexen und angespannten Bedrohungslage“

Das BKA schreibt, dass gerade Einzelpersonen in Deutschland und Europa die Entwicklung in Israel für sich „als tatauslösende und subjektiv empfundene Ermutigung für einen Anschlag sehen“ könnten. Der Verfassungsschutz spricht von einer „komplexen und angespannten Bedrohungslage“.

Und in diesen Lagen sind es genau die Fälle wie Rasul M., die den Ermittlern die größten Sorgen bereiten. Junge Menschen radikalisieren sich im Internet, nutzen simple und schnell zugängliche Waffen wie Messer oder Autos, wählen Ziele aus, die kaum vollständig zu schützen sind, wie Weihnachtsmärkte oder Clubs. Die Ideologie der Extremisten speist sich aus dem Hass der Propaganda des „Islamischen Staates“, al-Qaida oder anderen terroristischen Organisationen. Und doch stehen die jungen Täter oftmals nicht im direkten Kontakt zu den Gruppen. Der Hotspot des islamistischen Terrors liegt heute nicht in einer radikalen Moschee oder in einem Trainingscamp in Afghanistan – er liegt in sozialen Netzwerken wie Telegram, TikTok oder Instagram.

Das BKA will den Kampf gegen Islamisten stärker im Internet führen. Es gibt erste kleine Erfolge, die BKA-Präsident Holger Münch verkünden kann.
Das BKA will den Kampf gegen Islamisten stärker im Internet führen. Es gibt erste kleine Erfolge, die BKA-Präsident Holger Münch verkünden kann. © Arne Dedert/dpa | Unbekannt

Fachleute in den Sicherheitsbehörden haben einen Namen für Tätertypen wie Rasul M.: Franchise-Terroristen. Der Begriff „Franchise“ kommt eigentlich aus der Wirtschaft, gilt als Vertriebssystem von Unternehmen. Firmen vertreiben weltweit Produkte nach festgelegten Standards, doch die Betriebe vor Ort agieren selbstständig. Eine Ware wird global vermarktet. Doch hier exportieren die Terrorgruppen keine Autoreifen oder Handys – ihr Geschäftsmodell ist Gewalt. Propaganda für die Legitimierung von Anschlägen stellen die Terrorgruppen wie IS oder al-Qaida massenhaft in Videos im Internet bereit, Anleitungen für Anschläge mit Sprengstoff, Messer oder Auto ebenso. Die Täter vor Ort schlagen auf eigene Faust zu, planen Waffe und Ziel selbstständig. Sie nutzen nur die „Marke“ der Terrororganisation – etwa mit einem Bekennerschreiben.

Menschen wie Rasul M. werden zu „Filialen“ im globalen Franchise-Terrorismus

Rasul M. stammt aus Tschetschenien. 2014 floh seine Familie nach Deutschland. Sein Vater ist polizeibekannt, seine beiden Brüder sind schwere Gewalttäter, einer saß schon in Haft unter anderem wegen Raubdelikten. Der junge Rasul gilt den Ermittlern als sozial isoliert, leicht beeinflussbar. Zuletzt besuchte er eine Schule für Menschen mit Lernbehinderung. Es sind auch diese isolierten und manipulierbaren Tätertypen, auf die Terrorgruppen wie IS und al-Qaida abzielen. Menschen wie Rasul M. werden zu „Filialen“ im globalen Franchise-Terrorismus.

Den Kampf gegen diese Terror-Unternehmer führen die Sicherheitsbehörden zunehmend in den sozialen Netzwerken. Ermittler observieren Telegram-Kanäle, schleichen sich unter Decknamen in geschlossene Gruppen ein. Wichtige Hinweise auf die mutmaßlichen Terrorpläne von Rasul M. und seinem Komplizen stammen von österreichischen Nachrichtendienstlern – dort beschäftigt die Behörden seit vielen Jahren eine starke tschetschenische Dschihadisten-Szene.

Der Hotspot des islamistischen Terrors liegt heute nicht in einer radikalen Moschee oder in einem Trainingscamp in Afghanistan – er liegt in sozialen Netzwerken wie Telegram, TikTok oder Instagram.
Der Hotspot des islamistischen Terrors liegt heute nicht in einer radikalen Moschee oder in einem Trainingscamp in Afghanistan – er liegt in sozialen Netzwerken wie Telegram, TikTok oder Instagram. © Laura Ludwig/dpa-tmn | Unbekannt

In Deutschland geht das BKA als Zentralstelle der Polizei gegen Hetze und Terrorpropaganda auf Telegram und Co. vor. Seit dem Terror der Hamas vom 7. Oktober sieht die Polizei eine „verstärkte Propagandatätigkeit“ islamistischer Gruppen. Immer wieder thematisieren die Islamisten in den sozialen Netzwerken den Nahostkonflikt. Das BKA hat bislang nach eigenen Angaben mehr als 240 sogenannte „Entfernungsanordnungen“ (EA) gegen Kanäle oder einzelne Veröffentlichungen mit terroristischem Inhalt vor allem auf Telegram erlassen, darunter Medien der Hamas und des Islamischen Dschihads.

Kampf gegen Hetze im Netz: 240 Anordnungen des BKA gegen Telegram

Das BKA kann diese Anordnungen auf Grundlage einer EU-Verordnung verschicken, die erst seit 2022 gilt. Löschen die Betreiber die gemeldeten Beiträge und Kanäle nicht, drohen laut der Verordnung hohe Strafzahlungen für Telegram und Co. Die Betreiber haben laut BKA die mehr als 240 Anordnungen zum Löschen fristgerecht umgesetzt. Die Kanäle sind gesperrt – zumindest in Deutschland. Für die Behörden ist es ein kleiner Triumph im mühsamen Kampf gegen den Franchise-Terrorismus.