Braunschweig. Appell an Kassen: Nach dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst fürchten niedergelassene Ärzte, im Wettbewerb um Fachkräfte abgehängt zu werden.

Nach dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst fordern niedergelassene Haus- und Fachärzte die Krankenkassen auf, steigende Personalkosten in Arztpraxen über eine „angemessene Anpassung der Honorare“ zu refinanzieren. Andernfalls fürchtet Dr. Carsten Gieseking, Vorsitzender des Braunschweiger Landesverbandes der Hausärzte, eine Beschleunigung des Praxen-Sterbens.

Dr. Carsten Gieseking, Vorsitzender der Hausärzte-Verbands Braunschweig 
Dr. Carsten Gieseking, Vorsitzender der Hausärzte-Verbands Braunschweig  © Thomas Deutschmann

Der Fachkräfte-Mangel ist in den Arztpraxen längst angekommen. Dass Krankenhäuser ihnen die Medizinische Fachangestellten abwerben, dieses Phänomen kennt Braunschweiger Internist Dr. Oliver Marschal zwar schon länger. Nach dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst treibt den Fachärzte-Sprecher jedoch die Sorge um, dass niedergelassene Ärzte im Wettbewerb um Fachkräfte abgehängt werden – den besseren Arbeitsbedingungen, mit denen Praxen bisher punkten konnten, zum Trotz. „Wir sehen uns ins offene Messer laufen“, bestätigt Gieseking.

Das deutliche Lohnplus sei dem öffentlichen Dienst zu gönnen. Aber wie steht es um die Beschäftigten in den Arztpraxen? Hier sind es nicht die Steuerzahler, sondern die Krankenversicherten, die durch ihre Beiträge die Personalkosten mitfinanzieren.

Die Krankenkassen hatten mit Verweis auf ihr Milliarden-Defizit bereits bei den letzten Honorarverhandlungen auf eine Nullrunde für 2024 gepocht – was die Kassenärztliche Bundesvereinigung als „ungeheuerlichen Affront“ zurückgewiesen hat.

Eine Erhöhung der Vergütung um 8 Prozent hielte dagegen Marschal für angemessen. Bei der Bezahlung der Angestellten „müssen wir auf jeden Fall mit dem öffentlichen Dienst mithalten, sonst wird uns in naher Zukunft das Personal fehlen. Das bedeutet das Aus einer Praxis. Und nicht zu vergessen: Der Staat hat den Medizinischen Fachangestellten die ganze Wahnsinnslast der Pandemie nie gedankt.“

Gieseking: „Ambulante Gesundheitsversorgung gefährdet“

„Uns bricht die Wirtschaftlichkeit weg“, sieht auch Gieseking als Sprecher der Hausärzte die ambulante Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ohne Einlenken der gesetzlichen Krankenkassen gefährdet.

Personalkosten machen den Löwenteil der Praxis-Kosten aus. Doch auch die Inflation schlägt merklich zu. Werde darauf nicht durch höhere Vergütungen reagiert, „fahren immer mehr Arztpraxen ins Minus. Wir kommen jetzt in Bereiche, in denen es einzelnen Praxen an den Kragen geht“, appelliert Allgemeinmediziner Gieseking an die gesetzlichen Krankenkassen, deren Spitzenverband GKV die Honorare jährlich mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) aushandelt.

Der Bevölkerung, erklärt Gieseking, müsse klar werden, „dass wir Ärzte keine Großverdiener sind“.

Das sieht der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) offenbar anders. „Alarmrufe einer Gruppe, die nach wie vor zu den Spitzenverdienern gehört“, seien wenig nachvollziehbar, erklärt Sprecher Helge Dickau auf Anfrage unserer Zeitung. Bei der Debatte dürfe nicht vergessen werden, „dass die Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenversicherung den Löwenanteil von über 70 Prozent der ärztlichen Honorare begleichen. Diese gehen zum überwiegenden Teil nicht mit sechsstelligen Summen jährlich nach Hause, sind aber ebenso von steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten betroffen wie die Ärztinnen und Ärzte.“

„Kaum noch unternehmerischer Nachwuchs“

Diese „Neid-Debatte“ kennt Marschal seit Jahren – und wertet sie als Ablenkungsmanöver der Kassen von ihrer gesetzlichen Verpflichtung, einen Inflationsausgleich zu zahlen. „Wenn wir niedergelassenen Ärzte so viel verdienen?“, fragt der Braunschweiger Internist, „warum macht es dann keiner mehr?“

Der Braunschweiger Internist Dr. Oliver Marschal.
Der Braunschweiger Internist Dr. Oliver Marschal. © Thomas Deutschmann

Nicht nur Hausärzte könnte der Mut zur Selbständigkeit verlassen. Auch unter den Fachärzten, registriert Marschal, gebe es kaum noch unternehmerischen Nachwuchs. Viele Praxis zahlten inzwischen übertarifliche Gehälter, um ihr Personal zu halten. Obwohl es einen Mangel an Medizinischen Fachangestellten gebe, könnten sich viele die Ausbildung des Nachwuchses aber schon jetzt nicht mehr leisten.

Der GKV-Spitzenverband verweist auf den vom statistischen Bundesamt ermittelten Reinertrag pro Praxis – dem Überschuss nach Abzug der Praxiskosten: 2019 habe er im Durchschnitt bei 215.000 Euro gelegen. Private Versicherungen und Steuern von dieser Brutto-Summe abgezogen, bleibe dem Arzt für seine 50-Stunden-Wochen von dieser Summe rund die Hälfte übrig, rechnet Marschal vor. „Oder angesichts steigender Gehälter und Kosten bald gar nichts mehr.“

Laut GKV sind die Honorare der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte aufgrund der Kostensteigerungen von 2010 bis 2020 um durchschnittlich 3,4 Prozent jährlich gestiegen. „Als Faktoren fließen unter anderem die Inflation, die Entwicklung von Personal- und weiteren Praxiskosten und die Morbiditätsentwicklung der Bevölkerung mit ein.“ Die Basis der Verhandlungen zur Anpassung des Orientierungswertes (Preis) sei im Sozialgesetzbuch V geregelt.

Obwohl der Verband auf die Inflation als Faktor für die Honoraranpassungen hinweist, hält er mit Blick auf die Beitragszahler „eine maßvolle Herangehensweise an die Honorarverhandlungen für angemessen“, so Helge Dickau.

KVN: Rechnerisch fehlen jeder Praxis pro Jahr 28.000 Euro

Alarm schlägt derweil die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN). Für 2023 hatten die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der GKV-Spitzenverband ein Honorarplus von 2 Prozent ausgehandelt. Dem stehe ein allgemeiner Preisanstieg für die Praxen von rund 8,7 Prozent gegenüber – bei vielen Facharztgruppen liege er oft noch höher, beruft sich KVN-Sprecher Detlef Haffke auf aktuelle Berechnungen des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung (ZI). Die 6,7 Prozent Differenz beziffert er auf 2,8 Milliarden Euro. „Rechnerisch fehlen jeder Praxis 28.000 Euro im Jahr.“

Viele Praxen zahlen übertarifliche Gehälter

Nicht nur die Material- und Betriebskosten würden deutlich teurer. „Zu Buche geschlagen hat insbesondere, dass die Praxismitarbeiter in den zurückliegenden Jahren deutlich mehr Gehalt bekommen haben. Viele Praxen haben auch übertariflich gezahlt, um gutes Personal bei sich halten zu können.“ Gleiches gelte für angestellte Ärzte in den Praxen. „Viele ärztliche Arbeitgeber haben ihren Mitarbeitern eine Corona-Prämie gezahlt, obwohl hierfür kein wirtschaftlicher Ausgleich durch politische Maßnahmen erfolgt ist.“

„Einzelne ärztliche Fachgruppen bemerken, dass sich die Honorareinnahmen neuerdings deutlich rückläufig entwickeln. Neben der hohen Inflationsrate macht Haffke dafür den Wegfall der Neupatientenregelung verantwortlich.

Auch in Hausarzt-Praxen begännen die Umsätze einzubrechen. „Während die Krankenhäuser mit zusätzlichem Geld am Laufen gehalten werden, drohen den Praxen reale Einnahmerückgänge und Honorarverluste“, fürchtet Haffke ein schlimmes Erwachen. Aus Sicht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung drohe eine massive Schädigung der ambulanten medizinischen Versorgungsstrukturen. Dies sei nicht im Sinne der Patientinnen und Patienten. Für die Honorarverhandlungen 2024, die im August beginnen, müsse entschieden nachgebessert werden.

Fehlende Investitionsmittel– schlechtere Patientenversorgung

Rückendeckung komme vom Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung, so Haffke. „Dort sieht man den vertragsärztlichen Bereich bundesweit mit fast drei Milliarden Euro unterfinanziert.“ Die Folge seien fehlende Investitionsmittel und damit eine Verschlechterung der Patientenversorgung. Bei den GKV-Finanzen sehe das ZI durchaus finanziellen Spielraum. Bei den Krankenkassen lägen Reserven in Höhe von 10,4 Milliarden Euro. Zusätzlich gebe es12 Milliarden Euro im Gesundheitsfonds. „Es dürfte nach den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre allerdings schwer werden“, so Haffkes Einschätzung, „den Krankenkassen Vergütungssteigerungen in dieser Höhe abzutrotzen.“

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