Braunschweig. Menschen stürmen oft grundlos die Notaufnahmen der Kliniken. Welche Folgen das hat, auch darüber diskutierte die Kassenärztliche Vereinigung.

Das medizinische Notfallsystem in Deutschland steht unter Druck. Ärztinnen und Ärzten fehlt es oft an Zeit, den Krankenhäusern an Geld, und im gesamten medizinischen Sektor macht fehlendes Personal kaum Hoffnung darauf, dass sich die Lage schnell bessert. So wird es oft geschildert.

Dabei bedurfte es nicht erst der Forderung von Dr. Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, zu erkennen, dass Handlungsbedarf besteht. Gassen hatte vor etwa einem Monat eine Art „Notgebühr“ für Patientinnen und Patienten ins Spiel gebracht, die unaufgefordert und ohne vorherige telefonische Erstberatung den Weg in die Notaufnahmen suchen. So ein Verhalten sei unsozial, hatte er gesagt.

Der Vorschlag Gassens ist längst vom Tisch, das Problem aber bleibt. Es sei auch eines der Steuerung, sagen Experten. Wer schätzt wann ein, ob es sich um einen Notfall handelt? Handelt es sich überhaupt um einen? Und wenn ja: Wer trägt die Kosten? Auch dazu diskutierte der 3. Braunschweiger Gesundheitsdialog in den Räumen der Kassenärztlichen Vereinigung in Braunschweig am Mittwoch. „Sektorengrenzen im Notfalldienst überwinden – Akutversorgung unter Druck“, hieß es – geladen waren die Akteure, die in der Praxis die Notfallversorgung in Deutschland zu gewährleisten und zu bezahlen haben.

Beim 3. Braunschweiger Gesundheitsdialog der KVN-Bezirksstelle Braunschweig referierte Ostfalia-Professorin Martina Hasseler über die Pläne der Bundesregierung zur Reform des Krankenhauswesens. Danach stellte sie sich der Diskussion.
Beim 3. Braunschweiger Gesundheitsdialog der KVN-Bezirksstelle Braunschweig referierte Ostfalia-Professorin Martina Hasseler über die Pläne der Bundesregierung zur Reform des Krankenhauswesens. Danach stellte sie sich der Diskussion. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Anspruchshaltung wie bei Amazon-Bestellung

Dabei gab das Grußwort von Braunschweigs Oberbürgermeister Thorsten Kornblum (SPD) gleich den Ton vor, der sich durch die Veranstaltung wie ein roter Faden zog. So verwies Kornblum darauf, dass in einer Welt von „Amazon und Co.“, in der alles zu jeder Tag- und Nachtzeit bestellbar und konsumierbar sei, sich auch die Erwartungshaltung der Menschen an die medizinische Versorgung verändert habe. „Diese Haltung bringt – nach den Belastungen durch drei Jahre Pandemie – unser medizinisches System immer wieder an Grenzen. Dieser Tatsache müssen wir uns stellen “, erklärte Kornblum.

Er plädierte für ein stärkeres Zusammenspiel der Akteure in der akuten Gesundheitsversorgung und verwies, wie auch andere, auf den Fachkräftemangel, der nicht nur in der Pflege unübersehbar geworden sei. „Lassen Sie uns auch mal streiten und anderer Meinung sein. These, Antithese, Synthese. Das wusste schon Hegel. Dann können wir etwas ändern, an Schnittstellen und Strukturen.“

Dr. Thorsten Kleinschmidt, KV-Sprecher im Bezirk Braunschweig und niedergelassener Hausarzt, und auch Sabine Nowack-Schwonbeck von der AOK Niedersachsen wiesen darauf hin, überlastete Notaufnahmen resultierten bisweilen aus der fehlenden Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger. Nowack-Schwonbeck plädierte für ein Schulfach Gesundheit schon in der Grundschule. Und Kleinschmidt erklärte: „Dr. Google führt dazu, dass die Menschen bei Kopfschmerzen sofort an Hirntumor denken und dann in die Bereitschaftspraxen der Kassenärzte kommen oder im Zweifel sich auf den Weg ins Krankenhaus machen“, so Kleinschmidt. Er hält den Ausbau der integrierten Leitstellen und eine bessere Koordination der telefonischen Erstberatung in Deutschland für unausweichlich, soll das Problem gelöst werden, dass in den Notaufnahmen der Krankenhäuser immer öfter Menschen aufschlagen, die auch einen Tag später beim Hausarzt hätten vorstellig werden können.

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Auch Prof. Dr. Georg Knobelsdorff, seit Jahren in leitender Funktion als Notarzt in Hildesheimer Krankenhäusern tätig, formulierte schmerzhaft klar, woran es in Deutschland mangelt. „Wir brauchen ein System großer Leitstellen, unser kommunales Klein-Klein bringt uns da nicht weiter.“ Man könne sich nicht nur an Amerika, sondern auch an Niederösterreich ein Vorbild nehmen. Knobelsdorff gesteht aber zu: Bei Blaulicht-Einsätzen in akuten Notlagen sei man gut aufgestellt und könne schnell Leben retten. Man müsse am Ende dem Patienten das geben, was er brauche, nicht das, was er wolle, verwies auch Knobelsdorff auf eine übersteigerte Erwartungshaltung.

„Pflege seiner Kompetenz beraubt“ – Mitschuld der Ärzte?

Mit Professorin Martina Hasseler von der Ostfalia-Hochschule am Standort Wolfsburg hatte der KV-Bezirk Braunschweig nicht nur eine ausgewiesene Pflege-Expertin für die Veranstaltung gewinnen können. Hasseler ist auch Mitglied der Expertenkommission der Bundesregierung, die die Politik in dem Ziel, eine „moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ zu schaffen, berät. „Manche verwechseln, dass wir nur beraten, die Politik aber entscheiden muss“, sagte Hasseler zu Beginn ihres Kurz-Referats. Als einzige Expertin für Pflege sei sie in der Kommission mit ihren Positionen oft allein auf weiter Flur, was sie aber nicht davon abhalte, diese aufzuzeigen.

Veranstalter und Diskutantinnen und Diskutanten des 3. Braunschweiger Gesundheitsdialogs, ausgerichtet in den Räumer der KVN-Bezirksstelle Braunschweig. Von links: Stefan Hofmann (Geschäftsführer KV Braunschweig), Moderator Dr. Marius Haack, Dr. Thorsten Kleinschmidt (Bezirkssprecher KV Braunschweig), Professorin Martina Hasseler (Ostfalia Hochschule), Notfallmediziner Prof. Dr. Georg von Knobelsdorff, Sabine Nowak-Schwonbeck (AOK-Geschäftsführerin Gesundheitsmanagement stationär), Moderatorin Dr. Maren Preuß und André Koch (Klinikumsdirektor Klinikum Wolfsburg).
Veranstalter und Diskutantinnen und Diskutanten des 3. Braunschweiger Gesundheitsdialogs, ausgerichtet in den Räumer der KVN-Bezirksstelle Braunschweig. Von links: Stefan Hofmann (Geschäftsführer KV Braunschweig), Moderator Dr. Marius Haack, Dr. Thorsten Kleinschmidt (Bezirkssprecher KV Braunschweig), Professorin Martina Hasseler (Ostfalia Hochschule), Notfallmediziner Prof. Dr. Georg von Knobelsdorff, Sabine Nowak-Schwonbeck (AOK-Geschäftsführerin Gesundheitsmanagement stationär), Moderatorin Dr. Maren Preuß und André Koch (Klinikumsdirektor Klinikum Wolfsburg). © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Sie machte freundlich aber bestimmt deutlich, dass das Problem der Notfallversorgung auch in Teilen an den Ärzten selber liege, an deren Kompetenzanspruch und ihrem Selbstverständnis. „Muss jeder Patientenkontakt zuerst ein ärztlicher sein?“, fragte sie in die Runde und verwies darauf, dass der Pflege in Deutschland vor Jahren ihre ursprünglich zugedachte Kompetenz der Gesundheitsversorgung genommen worden sei. „Ändert sich hier nichts, finden wir keine Menschen, die sich für Pflege interessieren.“ Wenn die Bezahlung nicht reiche, Karrierechancen fehlten und am Ende nicht mehr übrig bleibe, als waschen, schneiden, legen, werde der Mangel nicht beseitigt, spitzte Hasseler zu.

Die Ostfalia-Expertin forderte ein Umdenken in Deutschland. Es müsse mehr Respekt der medizinischen Berufe untereinander und eine intensivere Zusammenarbeit geben. Hasseler sprach in dem Zusammenhang auch immer wieder von fehlender „Interprofessionalität“. Es könne keine Rede davon sein, Ärzten ihre Aufgaben wegnehmen zu wollen. Mit der Schaffung Integrierter Notfallzentren (INZ) und Integrierter Leitstellen (ILS), die die kontaktlose medizinische Erstberatung fördern sollen, wolle die Bundesregierung vielmehr für Entlastung im System sorgen.

Notfallambulanz als Daseinsvorsorge

Das klingt vermutlich auch in den Ohren von André Koch, Klinikumsdirektor am Klinikum Wolfsburg, gut. Menschen machten sich in ihrer subjektiv empfundenen Notlage oft auf den Weg in die Notaufnahme seines Hauses. Dort brenne auch abends noch Licht. Sie würden im Zweifel auch lange Wartezeiten in Kauf nehmen.

Koch hält die Idee der Regierungskommission, die medizinische Erstberatung zu stärken, für richtig, fordert von den politisch Verantwortlichen aber auch Klarheit. „Wir möchten wissen, welche Rolle wir als Krankenhaus in der Gesundheitsversorgung in der Region spielen werden.“ Man wolle kein Geld für Leistungen, die man nicht anbiete. Rosinenpickerei dürfe sich aber auch nicht lohnen, sagte Koch mit Blick auf andere Versorger in der Region, die in Teilen schon tageweise die Notaufnahme schließen würden. Er halte die Notfallambulanz für „ein Stück medizinische Daseinsvorsorge“. Die müsse dann aber auch ausreichend budgetiert werden.

Koch betont: Notfall klinge nicht nur „nach Feuerwehr“, es gebe durchaus Parallelen zur Arbeit anderer Rettungsinstitutionen. „Bei Feuerwehr und Polizei wird aber keine Strichliste geführt, wie viele Einsätze es nachts gab. Und es wird auch nicht Geld gekürzt, wenn es mal ruhiger blieb.“

Von den etwa 40.000 Patientenkontakten, die man im Klinikum Wolfsburg 2022 in der Notaufnahme gehabt habe, seien etwa 40 Prozent später stationär aufgenommen worden. „Die anderen haben wir wieder entlassen“, erklärte er.

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