Osterode. Mit Mutter und Oma flüchtet Karyna aus der Ukraine per Taxi, Zug, zu Fuß und Bus bis Polen. Im Krankenwagen geht es dann nach Deutschland.

Karyna ist siebzehn Jahre alt. Sie wurde in Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, geboren. Nach Angaben von Human Rights Watch haben bislang eine Million Ukrainer die Stadt verlassen. Nur rund 500.000 Menschen befinden sich noch dort. Unter den geflohenen Menschen ist auch Karyna. Am 25. März 2022 hat sie sich zusammen mit ihrer Mutter (44) und ihrer Großmutter (71) entschlossen, ihre Heimat zu verlassen.

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Karyna ist zwar erst seit sieben Monaten in Deutschland, aber mir fällt im Deutschunterricht auf, dass sie die Sprache bereits sehr gut verstehen und den anderen Deutschlernenden aus der Ukraine helfen kann, indem sie neue Wörter für sie übersetzt. Mit viel Geduld hat sie diese Aufgabe übernommen, obwohl sie die Jüngste im Kurs ist. Dabei ist das Handy eine Hilfe.

Karyna hat mich eingeladen. Sie will mir von ihrer Flucht aus der Ukraine erzählen. Wir sitzen in der Küche ihres neuen Zuhauses in Osterode. Vor dem großen Fenster tummeln sich Spatzen auf dem Rasen. In der Mitte ein Vogelhaus. Die Sonne scheint in die Küche. Eine Katze tapert gemächlich herein. Alles wirkt so normal und friedlich. Dabei war Karynas Leben bis vor kurzem alles andere als normal und friedlich…

Karyna hatte am Polytechnischen Institut der Technischen Universität Charkiw ihr Studium begonnen. Die TU in Charkiw ist die größte und älteste technische Universität in der östlichen Ukraine. Ursprünglich wollte Karyna Psychologie oder Architektur studieren, entschied sich dann aber für den Studiengang „Technologie organischer Substanzen bei Lebensmittelzusatzstoffen und Kosmetika“, denn damit würde sie gute Berufschancen in der Ukraine haben. Doch der Krieg hat diese Pläne vorerst zunichte gemacht.

Viele ihrer Kommilitonen haben sich ebenfalls zur Flucht entschieden. „Für viele meiner Kommilitonen wurde es in Charkiw einfach zu gefährlich“, erzählt die junge Frau mit den langen dunklen Haaren. „Einige hatten keine Wohnung mehr, andere hatten einfach Angst vor den ständigen Raketenangriffen.“

Pfeifen der Raketen

Mit ihrer Mutter und der Großmutter bewohnte Karyna eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Charkiw. Nach Ausbruch des Krieges waren sie von der Außenwelt abgeschnitten. „Ich habe mich gefühlt, als sei ich eingesperrt“, erzählt sie. „Ständig das Pfeifen der Raketen! Das zehrte so an unseren Nerven!“ Verängstigt und ratlos seien sie gewesen. „Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Wohin sollten wir gehen? Wer würde uns im Ausland brauchen? Und würden wir in einem fremden Land unseren eigenen Lebensunterhalt selbst bestreiten können?“ Karynas Vater lebte mit seiner Mutter in einem kleinen Dorf in der Nähe von Charkiw. Doch auch in unmittelbarer Nähe des Dorfes fanden starke Kämpfe statt. Viele Häuser und Gärten wurden von Raketen getroffen. Ja, es gab Tote.

Schließlich entschlossen sich die drei Frauen, die Ukraine zu verlassen. „Ich habe meinen kleinen Koffer und eine Tasche gepackt und das Allernötigste mitgenommen“, erzählt sie. „Etwas zu essen und Körperpflegemittel. Halt alles, was in meinen Koffer und meine Tasche passte.“ In der Nacht des 25. März haben sie dann ihre Wohnung abgeschlossen und sind gegangen. „In der Nähe unserer Wohnung liegt der Flughafen von Charkiw, der stark bombardiert wurde. Daher mussten wir irgendwie versuchen, zum Bahnhof zu kommen, was mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr möglich war. Nichts fuhr mehr. Es gab ständig Beschuss.“ So riefen sie ein Taxi. „Es war sehr teuer, aber so kamen wir wenigstens zum Bahnhof.“ Mit dem Zug fuhren sie dann ins 1.200 Kilometer entfernte Lwiw (deutsch Lemberg) in der Westukraine an der Grenze zu Polen.

„In Lwiw hatten Freiwillige eine Schule zu einem Lager umfunktioniert. Dort konnten wir übernachten. In der Nacht gab es immer wieder Raketenbeschuss. Das war beängstigend! Am anderen Morgen haben wir uns dann aufgemacht in Richtung polnische Grenze. Das war eine Odyssee! Es gab sehr lange Menschenschlangen an der Grenze,“ erzählt Karyna. „Wir standen 16 Stunden in der Schlange, die sich nur langsam vorwärts bewegte. Es war sehr kalt, nieselte und es hat immer wieder geregnet. Freiwillige haben uns mit Essen und warmen Decken versorgt.“ Als sie die polnische Grenze endlich überquerten, war es bereits spät in der Nacht.

Keine Medikamente

Auch Freiwillige auf der polnischen Seite kümmerten sich um sie und versorgten sie mit Essen. „Sie setzten uns in Busse und brachten uns in eine Turnhalle in einer Kleinstadt. An den Namen erinnere ich mich nicht mehr. Ich war einfach nur müde und erschöpft.“ In der Turnhalle hatte man etwa 300 Klappbetten aufgestellt, erzählt Karyna. „Viele Menschen waren schon da und schliefen. Dort haben wir dann mehrere Tage gelebt.“ Erschwerend kam hinzu, dass ein Magen-Darmvirus grassierte. Besonders den Kindern sei es schlecht gegangen. Viele Menschen hätten ihre Haustiere dabei gehabt: Hunde und Katzen. „Für unsere Katze haben wir an der polnischen Grenze eine spezielle Transportbox geschenkt bekommen, damit sie sich unter den vielen Menschen wohler fühlt. Und die polnischen Freiwilligen haben uns sogar Futter für sie mitgegeben.“

Ein großes Problem sei gewesen, dass es keine Medikamente gab. In der Ukraine waren sämtliche Apotheken geschlossen. „Wir haben zwar alle Medikamente mitgenommen, die wir noch zu Hause hatten, aber irgendwann war alles aufgebraucht“, erzählt Karyna. Vor ihrer Flucht sei die Oma schwer an Covid-19 erkrankt. Außerdem habe sie einen Herzschrittmacher und sei auf regelmäßige Tabletteneinnahme angewiesen. Sie selbst sei auf der Fahrt ebenfalls erkrankt, da auch sie keine Tabletten mehr hatte. „Ich habe Typ II Diabetes und benötige regelmäßige Medikamente und Kontrolluntersuchungen.“ Als sie das Bewusstsein verlor, wurde sie per Krankenwagen vom Roten Kreuz zusammen mit Mutter und Oma nach Deutschland gebracht – nach Friedland. Diese Fahrt dauerte zwölf Stunden.

„Ich war froh, dass ich aus dem Krieg rauskam und dass nun keine Raketen mehr über meinem Kopf fliegen würden“, erzählt sie. „Aber ich war und bin traurig, dass meine Verwandten in der Ukraine weiterhin großer Gefahr ausgesetzt sind.“

Im Auffanglager Friedland wohnten sie in einstöckigen Häusern mit vielen Zimmern. Sie hatten zwar ein eigenes Zimmer, aber es habe für das ganze Haus nur eine Dusche gegeben. Nach drei Tagen wurden sie nach Germershausen gebracht. Fünf Tage später ging es per Taxi nach Osterode.

Vor dem großen Fenster in der Küche tummeln sich noch immer Spatzen auf dem Rasen. Die Katze hat sich satt gefressen. Alles wirkt normal und friedlich. In die Stille hinein sagt Karyna: „Ich habe in der Ukraine alles verloren, was ich hatte.“ Und was hat sie gewonnen? „Ich konnte nach Deutschland kommen, neue Orte sehen und wunderbare Menschen und ihre Kultur kennenlernen.“ Und was wünscht sie sich für die Zukunft? „Ich möchte einfach wieder mit meinen Verwandten in der Ukraine zusammen sein!“