Pöhlde. Menschen unter uns: Rita J. Sührig berichtet über Hanna, die im Alter von 80 Jahren aus Charkiw in der Ukraine geflohen ist und nun in Pöhlde lebt.

Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Vor Kriegsausbruch am 24. Februar dieses Jahres zählte die Stadt fast 1,5 Millionen Einwohner. Während des russischen Angriffs wurde Charkiw intensiv beschossen, wovon auch die zu einem großen Teil russisch geprägte Zivilbevölkerung betroffen war. Laut Angaben von Human Rights Watch sind etwa 500.000 Menschen in der Stadt verblieben. Ein Großteil der Bevölkerung floh. Darunter auch die 80 Jahre alte Hanna, die nach ihrer Flucht nun in Pöhlde untergekommen ist.

Als Hanna im Jahr 1942 geboren wurde, herrschte Krieg: der Zweite Weltkrieg. 100 Kilometer vor Charkiw lieferte sich die deutsche Heeresgruppe Süd mit sowjetischen Soldaten erbitterte Kämpfe. Ziel der sowjetischen Großoffensive mit etwa 640.000 Soldaten und 1.200 Panzern unter Marschall Semjon Timoschenko war die Einschließung der im Raum Charkiw operierenden 6. Armee unter Generaloberst Ewald von Kleist. Ein anschließender Vorstoß zum Dnepr, ein 2.201 Kilometer langer Strom, der durch Russland, Belarus und die Ukraine fließt, und der drittlängste Fluss Europas ist, sollte die deutsche Ostfront zum Einsturz bringen.

Ukraine war bereits 1941 einer der Hauptkriegsschauplätze

Am 1. September 1939 überfielen deutsche Truppen Polen und der Zweite Weltkrieg begann. Die sowjetische Besetzung Ostpolens am 17. September 1939 führte zur Aufteilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Dadurch wurde die Ukraine um Ostgalizien und Wolhynien vergrößert. 1941 wurde die Ukraine dann von der deutschen Wehrmacht überfallen und war als Teil der Sowjetunion neben Weißrussland und dem Baltikum einer der Hauptkriegsschauplätze des Zweiten Weltkrieges zwischen den Truppen der Roten Armee und der deutschen Wehrmacht und deren Verbündeten. Es gab Millionen Tote und verwüstete Landstriche. Die Gesamtzahl der Toten wird mit acht Millionen angegeben, davon fünf Millionen Zivilisten, unter ihnen auch 1,6 Millionen ukrainische Juden.

Mit der Eroberung der Ukraine durch das Deutsche Reich begann die Ausbeutung und Unterdrückung der ukrainischen Bevölkerung durch die Deutschen und deren Verbündeten. Die Ukraine hatte den Status einer Kolonie. Produkte aus der Landwirtschaft, wie etwa Getreide, Fleisch, Vieh, mussten ins Dritte Reich geliefert werden. Zahlreiche ukrainische Kriegsgefangene starben in deutscher Gefangenschaft, meist durch Hunger, Seuchen und Misshandlungen.

Hanna aus Charkiw: Eine starke Frau

Hanna kommt aus Charkiw. Heute ist sie 80 Jahre alt. Sie ist immer die Erste beim Deutschunterricht. Stets sitzt sie auf demselben Platz. Ganz vorne. Denn sie sieht schlecht. Minuziös schreibt sie jedes Wort von der Tafel in ihr kleines braunes Ringbuch. Die Schrift ist gestochen. „Sie haben aber eine schöne Schrift“, stelle ich fest. Hanna lächelt verlegen.

Als Ingenieurin hatte sie mit zum Lebensunterhalt der Familie beigesteuert. Die Tochter hatte Medizin studiert und als Kinderärztin in Charkiw gearbeitet. Vor 27 Jahren verstarb ihr Mann. Seitdem ist sie Witwe. Ein Jahr vor Kriegsausbruch erkrankte sie an Covid-19. Dabei wurde auch Brustkrebs diagnostiziert und sie wurde operiert. Seitdem nimmt sie Medikamente. In Kürze muss sie wieder in die Onkologie. Während sie das sagt, lächelt sie, was noch einmal die Stärke unterstreicht, die diese Frau ausmacht.

„Ohne Keller kann man nicht überleben“

„Als der Krieg ausbrach, mussten wir unser Haus verlassen“, erzählt sie. „Es war nicht unterkellert.“ Als sie meinen ratlosen Gesichtsausdruck sieht, fügt sie hinzu: „Wegen der Panzer der russischen Armee und der Detonationen in der Stadt. Ohne Keller kann man nicht überleben.“ Zusammen mit ihrer Tochter und den beiden Katzen Mira und Aya brachte man sie in ein Café in der Nähe ihres Hauses. Einen Monat lang teilte sie sich die Kellerbehausung mit 20 anderen Menschen. Viele kleine Kinder seien dabei gewesen. Auch zwei Hunde und drei weitere Katzen. „Im Februar ist ja Winter“, erzählt Hanna. „Da ist es kalt. Und im Keller noch kälter.“

„Dass ich in meinem Alter noch einmal Krieg erleben würde, hätte ich auch nicht gedacht“, sagt Hanna, 80 Jahre alt, die während des Zweiten Weltkrieges in Charkiw geboren wurde.
„Dass ich in meinem Alter noch einmal Krieg erleben würde, hätte ich auch nicht gedacht“, sagt Hanna, 80 Jahre alt, die während des Zweiten Weltkrieges in Charkiw geboren wurde. © HK | Rita J. Sührig

Wo sie denn bei so vielen fremden Menschen auf engstem Raum im Keller geschlafen hätte, frage ich. „Auf Holzbänken“, sagt Hanna, so als sei es etwas ganz Normales. Einen Monat im kalten Keller mit 20 fremden Personen, weinenden Kindern und Tieren und Holzbänken… „Dass ich in meinem Alter noch einmal Krieg erleben würde, hätte ich auch nicht gedacht“, fügt sie leise hinzu. „Während des Zweiten Weltkriegs war ich zwar noch klein, aber die Folgen waren damals trotzdem für uns alle spürbar. Und nun schon wieder.“

Wasser und Lebensmittelknappheit: Anspannung wuchs täglich

Hanna erinnert sich: „Ja, es gab humanitäre Hilfe. Immer wieder brachten uns Menschen Essen und Wasser in den Keller.“ Alle Apotheken hatten geschlossen. Die Supermärkte auch. „Als dann aber kein Essen mehr kam und das Wasser ausging, war ich mit den Nerven am Ende und dachte: jetzt werde ich sterben.“ Die Anspannung im Keller wuchs von Tag zu Tag. „Wir konzentrierten uns nur noch auf das Heulen der Sirenen. Es war auch vor dem Kellerfenster deutlich zu hören und unerträglich. Dazwischen immer wieder Explosionen. Es roch verbrannt. In der Nähe gab es ja viel Infrastruktur, die von der russischen Armee wohl zerstört werden sollte. Darum waren die Explosionen sehr stark.“

Sie erzählt weiter: „Die Soldaten, die uns verteidigt haben, sind buchstäblich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gestorben.“ Tagaus, tagein und jede Nacht habe sie an ihre beiden Enkel gedacht, 29 und 36 Jahre alt. Beide sind Soldaten der ukrainischen Armee.

Kriegsalltag im Keller wurde unerträglich gruselig

Die Menschen im Keller hatten Angst, vielleicht verschüttet zu werden. Die Erde bebte und der Putz flog von den Wänden. „Aber ich wollte leben! Irgendwann wurde es dann unerträglich gruselig und so laut, dass meine Tochter und ich entschlossen, unsere wenigen Sachen zusammenzupacken. Wir wollten versuchen, mit unseren beiden Katzen aus dem Keller und aus der Hölle von Charkiw rauszukommen.“

Hanna macht eine Pause. Ihr ist anzusehen, dass ihr die Erinnerung an das Geschehene zu schaffen macht. Dann hellt sich ihr Gesicht auf. „Ja, wir hatten riesiges Glück! Noch am selben Tag bekamen wir zwei Plätze in einem Zug mit direkter Verbindung nach Polen.“

Dreitägige Zugfahrt von Ost nach West ins Ungewisse

Der Zug fuhr nach Warschau. Dann weiter nach Berlin. Und schließlich nach Herzberg und anschließend nach Pöhlde. Es wurde ein dreitägige Zugfahrt von Ost nach West ins Ungewisse. Von der Millionenstadt Charkiw ins 1.936-Seelendorf Pöhlde. „Die Menschen hier haben uns sehr geholfen“, erzählt Hanna.

„Mira und Aya, unsere beiden Katzen, haben jetzt allerdings große Angst vor lauten Geräuschen und verstecken sich ständig, wenn jemand etwas Lärm macht.“ Lächelnd fügt sie hinzu: „Aber, das ist ja normal.“

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Dennoch: Ihr ganzes Hab und Gut, alles, was sie sich in ihrem langen Leben angeschafft hat und was ihr lieb und teuer war, ist weg. Ebenso, wie all ihre Familienfotos. So, als hätte sie nie etwas besessen. Sie vermisst ihre Nachbarn, Freunde und Bekannten in Charkiw, mit denen sie sich austauschen konnte. Deren Sprache sie spricht und versteht. Aber am meisten vermisst sie ihre beiden Enkel, die als Soldaten die Autonomie der Ukraine verteidigen. Sie telefonieren täglich miteinander. An manchen Tagen sogar zweimal.

Neue Kultur, Sprache und Mentalität statt verdientem Ruhestand

Jetzt muss sie sich in ihrem fortgeschrittenen Alter, in dem andere ihren Ruhestand und Lebensabend genießen, in eine neue Kultur mit einer fremden Sprache und Mentalität hineinfinden. Aber sie tut es mit einem Lächeln im Gesicht.

Morgen wird Hanna wieder als Erste auf ihrem Platz im Deutschunterricht sitzen. Ganz vorne. Denn sie sieht schlecht. Sie wird ihr kleines braunes Notizbuch aufschlagen und neue deutsche Vokabeln von der Tafel eintragen. Mit gestochener Handschrift.

Und was wünscht sie sich? „Ich würde gerne wieder Nähen“, sagt sie. „Aber meine Nähmaschine ist in Charkiw.“