Osterode. Menschen unter uns: Autorin Rita J. Sührig berichtet über Nina aus Mariupol in der Ukraine, die jetzt im Altkreis Osterode am Harz lebt.

Sie ist 36 Jahre alt. Eine hochgewachsene, schlanke Frau mit schwarzem, halblangem Haar und einem ebenmäßigen Teint. Irgendwie erinnert sie mich an Schneewittchen. Gerade hat sie mit ihrem Mann ihren 19. Hochzeitstag gefeiert. Zur Feier des Tages haben sie eine kleine Flasche Prosecco gekauft und auf eine bessere Zukunft angestoßen.

Ja, sie schauen jetzt optimistischer in die Zukunft. Denn Optimismus brauchen sie. Vor fünf Monaten ist ihre heile Welt im schönen Mariupol aus den Fugen geraten. Am 24. Februar 2022 begann der Krieg gegen die Ukraine. „Und plötzlich waren da überall russische Soldaten in unserer Stadt“, erzählt Nina.

Das war einmal Ninas Zuhause.
Das war einmal Ninas Zuhause. © Privat | Nina

Im Radio hörten sie die dringliche Aufforderung, sicherheitshalber mit den Kindern und allen Familienangehörigen in den Keller ihres Hauses zu gehen. Für ein oder zwei Tage. Maximal vielleicht auch drei, so hieß es. Daraus wurden vier lange Wochen. Vier Wochen im Keller…

„Wenn keine Sirenen zu hören waren, sind wir rasch in unsere Wohnung nach oben gelaufen und haben immer wieder Lebensmittel in den Keller geholt“, erzählt Nina. Und leise fügt sie hinzu: „Aber irgendwann war alles aufgebraucht.“

Harry Potter im Keller.
Harry Potter im Keller. © Privat | Nina

Angst, Kälte und Dunkelheit

Ja, kalt sei es gewesen im Keller. Und dunkel. Die Kinder hatten Angst. Eines der Kinder fand ein zerfleddertes Buch: Harry Potter. „Jeden Abend hat er uns allen daraus vorgelesen.“

Die Männer mussten immer wieder nach draußen und versuchten, Wasser aufzutreiben. Manchmal sei ein Auto vorbeigekommen und brachte Wasser. Manchmal nicht. „Da haben wir Schüsseln und Schalen vors Haus gestellt und gebetet, dass es endlich regnet!“

Hoffnung auf Regen.
Hoffnung auf Regen. © Privat | Nina

Und es hat geregnet. „Das war so ein Segen“, sagt Nina. „Mit dem aufgefangenen Wasser haben wir dann wenigstens unsere Kinder etwas waschen können.“ Nach einer Pause fügt sie nachdenklich hinzu: „Wir haben überlebt, weil Gott uns Wasser geschenkt hat!“ Vor dem Haus auf der Straßen haben sie auch gekocht. Mit Holz.

Wenn geschossen wurde, sind sie rasch wieder in den Keller gerannt. „Ich habe seltsamerweise von Käse geträumt“, erzählt Nina und lacht. Dabei blitzen ihre Zähne. „Und Gott hat doch tatsächlich meinen Traum erfüllt! Einige Jugendliche hatten ein Geschäft in der Nachbarschaft geplündert. Und sie kamen mit einer Riesenportion Käse in unseren Keller. Jeder von uns konnte sich daran laben und richtig sattessen. Das war vielleicht ein Fest! Gott hat uns Wasser und Käse geschenkt!“

Kochen auf der Straße.
Kochen auf der Straße. © Privat | Nina

Geliebte Heimat verlassen

Irgendwann sei dann dort im Keller der Plan gereift zu versuchen, ihr geliebtes Mariupol und, wenn nötig, ihre Heimat, die Ukraine, zu verlassen. Ja, sie würden versuchen, nach Deutschland zu kommen. Ninas Vater hat einen Freund in Norddeutschland. Regelmäßig schrieben sich die Familien und der Freund bot an, die Familie zu unterstützen, falls sie nach Deutschland kommen würde.

Und so begann für Nina, ihrem Mann und die zwei Kinder die Fahrt ins Ungewisse. Zwei Wochen waren sie mit dem Auto unterwegs. Von Mariupol nach Russland. „Dort haben wir getankt, weil es bei uns kaum Benzin mehr gab.“ Dann über Weißrussland und Polen bis nach Deutschland. Gegessen und geschlafen haben sie im Auto. Zwei Wochen lang.

Eine Schlange von Autos bildet sich auf der Straße, um Mariupol zu verlassen. Auch Nina und ihre Familie flohen mit dem Auto.
Eine Schlange von Autos bildet sich auf der Straße, um Mariupol zu verlassen. Auch Nina und ihre Familie flohen mit dem Auto. © dpa-Archiv | Maximilian Clarke

Jetzt ist die Familie in Sicherheit. Die Kinder besuchen eine deutsche Schule und Nina und ihr Mann besuchen regelmäßig und mit viel Eifer den Deutschkurs. „Und bald machen wir auch den Integrationskurs“, sagt Nina und strahlt dabei übers ganze Gesicht.